Mein Opa war kein Weltkriegsheld
Müsste mein Großvater Johann Leopold Ziegler heute zur Musterung, würde ihn das Bundesheer sicher auf der Stelle als untauglich heimschicken. Der Wehrmacht hingegen ist es 1941 egal, dass er seit seinem fünften Lebensjahr halb blind ist, nachdem er als Kind in eine Kalkgrube fiel. Und so beginnen für ihn 16 Monate nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fast fünf Jahre als deutscher Soldat, denen ebenso viele Jahre Kriegsgefangenschaft folgen werden. Davon ahnt er freilich noch nichts, als er am 7. Jänner 1941 mit dem 17. Bau-Bataillon nach Neuhaus geschickt wird, wie aus seinem Kriegsgefangenenakt hervorgeht.
Darin ist zwar kein Bundesland genannt, aber die Vermutung liegt nahe, dass es sich um die Gemeinde Neuhaus im Kärntner Bezirk Völkermarkt handelt, wo eine slowenisch-sprachige Minderheit lebt. Mein Großvater wurde nämlich am 28. November 1905 zwar in Wien geboren und ist 1924 dorthin zurückgekehrt, ist aber der Nationalität nach Slowene und hat seine ersten zwei Lebensjahrzehnte überwiegend in Slowenien verbracht. Und nun wird er just dorthin geschickt, wo das NS-Regime nach der Machtübernahme in Österreich 1938 die Kärntner Slowen:innen systematisch diskriminiert und verfolgt. Schließlich spricht er deren Sprache fließend.
Die erste große nationalpolitisch motivierte Verhaftungswelle unter den Kärntner Slowen:innen im April 1941 erlebt mein Großvater vermutlich noch hautnah mit, denn erst im Mai wird er nach Wien versetzt und der Übersetzer-Kompanie zugeteilt, wo er zunächst zwei Jahre als Zensor bei der Post verbringt, ehe es im Mai 1943 mit dem 313. Grenadier-Regiment nach Frankreich geht. Aber nicht für lange, denn im August 1943 schickt man ihn mit dem 543. Infanterie-Regiment ins damalige Jugoslawien. Wiederum ein naheliegender Einsatz für einen Slowenen, der zudem mit fast 37 Jahren relativ alt ist. Und beim Übersetzen ist das schlechte Augenlicht ebenso egal, wie seine schmale Statur. Mit gerade einmal 1,62 Metern Körpergröße ist mein Opa das, was man in seiner Heimatstadt Wien ein „Zniachterl“ nennt.
Als Übersetzer, der mutmaßlich die meiste Zeit am Schreibtisch verbringt, ist Johann Ziegler das, was in der Wehrmacht von den Frontsoldaten wenig schmeichelhaft als „Etappenschwein“ bezeichnet wird. Er gehört also zu jenen Einheiten, die in der Etappe – im Hinterland – nicht den Gefahren der Front ausgesetzt sind und mitunter sogar die „Frontschweine“ gängeln. Und noch dazu ist er ein Slawe – und damit dienlich für die Zwecke der Wehrmacht im Kampf gegen die Partisanen am Balkan, der bis ins „Bandenkampfgebiet“ an der „Heimatfront“ in Südkärnten reicht, aber in der Ideologie des Nationalsozialismus ein Mensch zweiter Klasse. Und wer weiß, vielleicht stand er auch unter Generalverdacht, als Slowene mit Josip Broz Titos Partisanen zu sympathisieren?
Wie es meinem Opa tatsächlich in seinen fünf Jahren in Adolf Hitlers Armee ergangen ist, darüber kann heute nur spekuliert werden, weil er darüber genauso wenig gesprochen hat wie über seine fünfjährige Kriegsgefangenschaft in Sibirien, von der er meist bloß erzählte, dass es so eiskalt gewesen sei, dass beim Urinieren im Freien eine gelbe Säule stehen geblieben sei. (Ob das wirklich sein kann? Viel Spaß beim nachgoogeln.) Und seine späteren Magenprobleme dürften eine Folge der mangelhaften Ernährung im Lager gewesen sein.
Ebenso schwierig ist es nachzuvollziehen, was Johann Ziegler in seinem Kriegseinsatz erlebt oder mitangesehen hat. Zwar liegt der Verdacht nahe, dass er zumindest von den Kriegsverbrechen von Wehrmacht und Schutzstaffel (SS) unter den Partisanen und auch unter der Zivilbevölkerung am Balkan gewusst haben dürfte, die Jahrzehnte später den – dennoch erfolgreichen – Bundespräsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim im Wahlkampf eingeholt haben. Denn obwohl mein Großvater laut meinem Vater „ein überzeugter Monarchist“ und im Kaiserreich in der damaligen Untersteiermark (einem Teil des heutigen Slowenien) aufgewachsen war, hat er doch in privaten Gesprächen den ÖVP-Politiker recht vehement verteidigt, der sich 1986 darauf berufen hat, im Kriegseinsatz für das NS-Regime seinerzeit „nur meine Pflicht getan“ zu haben.
Darüber, was mein Großvater am Balkan getan und erlebt hat, kann heute nur noch spekuliert werden. Auf österreichischer beziehungsweise deutscher Seite gibt es nämlich keine Informationen zu seinem Kriegseinsatz. Johann Ziegler gehört zu den wenigen Prozent, deren Wehrmachtspersonalakten nicht mehr auffindbar sind, wie mir der am Heeresgeschichtlichen Museum in Wien tätige Historiker Richard Germann nach erfolgloser Suche berichtet. Er nennt dafür zwei mögliche Gründe: „Entweder der Akt ist schlicht und einfach irgendwann falsch eingeordnet worden und somit die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen aus Millionen Personalunterlagen. Oder aber Ihr Großvater war ein Spion, und die Dokumente wurden irgendwo weggesperrt.“ Zweiteres kann ich mir aber eigentlich nicht so recht vorstellen. Oder vielleicht doch?
Als Übersetzer war er jedenfalls ein Geheimnisträger – und dieser Status könnte seine mit fünf Jahren doch recht lange Kriegsgefangenschaft in Sibirien erklären. Mutmaßlich von den britischen Alliierten am Balkan aufgegriffen, sitzt er eigentlich schon im Zug in Richtung Heimat, als seine gesamte Einheit am 28. Mai 1945 – also 20 Tage nach dem offiziellen........
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