menu_open Columnists
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close

80 Jahre Berliner Zeitung: Bloß nicht alle in eine Richtung!

7 39
wednesday

„Berlin lebt auf !“ So titelte die Berliner Zeitung am 21. Mai 1945. Es war die erste Ausgabe der Berliner Zeitung, die zwischen Zerstörung und Aufbruch in Ost-Berlin entstand. Heute feiert die Berliner Zeitung 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass gibt es in den kommenden Tagen exklusive Berichte und am 24. Mai eine Sonderausgabe der Berliner Zeitung, die sich dem Aufbruch widmet. Hier lesen Sie den Auftakt von Birgit Walter, die an die Geschichte der Zeitung erinnert.

Bei einer Preisverleihung wurden Journalisten aufgefordert, etwas zur eigenen Biografie vorzutragen, aber bitte nur die wesentlichen Stationen, nicht länger als eine Seite. Mich versetzte die Aufgabe in eine kleine Panik, denn meine Stationen brauchten keine Seite, sie passten in eine Zeile: 1978 wurde ich Redakteurin der Berliner Zeitung. Punkt. Kein Journalist, der was auf sich hält, bleibt heute ein Leben lang bei demselben Blatt. Ich gebe zu, ich habe keine Biografie, aber eine Zeitung.

Dieser Umstand kommt mir jetzt zugute. Denn an meinem Arbeitsplatz scheinen Jahrhunderte vergangen zu sein, trotz meiner Treue zu dem Blatt. Ich erlebte seit den 1970ern zwei Gesellschaftssysteme, sechs Verleger, sieben Ressortchefs und acht Chefredakteure, die alle grundverschiedene Zeitungen wollten. Ich blieb. Seit 2014 bin ich nur noch als Autorin dabei, doch auch da war was zu erleben. Hier kommen also persönliche Eindrücke aus der Perspektive des Fußvolks, der Redakteure.

Ich liebte diese Redaktion schon in den 1970ern. Die Atmosphäre wirkte geradezu befreiend, vor allem nach der quälenden Journalistik-Sektion in Leipzig, die ihre Studenten zu kollektiven Propagandisten erziehen wollte. In der Berliner Zeitung zogen die Kollegen vernehmlich über alles her – die Parteitagsbeschlüsse, die Reden, das Geschwafel über den „Arbeitsplatz als Kampfplatz für den Frieden“, also über den Staat, die Partei und sich selbst mit fließenden Übergängen zum Zynismus.

Im Redaktionssekretariat lag ein Tabu-Buch, das Verbote auflistete. Fotos von Schiffen und Autos hatten grundsätzlich zu unterbleiben, damit sie Leser nicht an ihre Reiselust oder Autoanmeldung erinnerten. Das Buch wurde stetig aktualisiert, denn die Chefredaktion erhielt wöchentlich ein Briefing in der Agitationsabteilung der Partei. So gerieten auch Marokko und Uruguay in das Buch: Keine negative Erwähnung bitte, weil die DDR aus dem Königreich Dünger bezog und der Militärdiktatur Hafenkräne verkaufte.

Die Parteiführung versuchte mit ihrem gewaltigen Apparat, ein mediales Bild zu zeichnen, in dem die DDR aussah, wie sie theoretisch sein sollte. Viele Redakteure zogen sich gerade im letzten DDR-Jahrzehnt in die innere Emigration zurück, versuchten, die politischen Zumutungen auszublenden. Die meisten Leser – 420.000 Abonnenten – hatten sich längst abgewandt, interessierten sich vor allem für die Kleinanzeigen, die Seiten mit Lokalem, Sport, Kultur. Ein realistischer Blick, auf die Wirtschaft oder den Zustand der Umwelt, war ausgeschlossen.

Journalisten entwickelten aber ein Gespür dafür, was sie trotzdem schreiben konnten, nutzten Spielräume, brachten in Wirtschaftstexten Missstände unter, beherrschten das Zwischen-den-Zeilen-Schreiben. Gelang es, gingen über Dieter Kerschek, Chefredakteur von 1972 bis 1989, regelmäßig Donnerwetter im SED-Zentralkomitee nieder. Beim Zeitungseigentümer also, was vielen Lesern nicht bewusst war, denn das 1945 von der Roten Armee gegründete und nach vier Wochen dem Berliner Magistrat übereignete Blatt wies nicht aus, dass das Blatt seit 1953 der Partei gehörte.

Kerschek gab den Druck nicht weiter, stellte sich schützend vor seine Mitarbeiter, verhielt sich anständig. Zu Parteitagen versuchte er, wenigstens die Lokalseite vor dem Abdruck der Redenfluten zu retten. Es wurde keine gute Tageszeitung, doch im Osten wohl die beste, die zu haben war. Der Chefredakteur verließ die Redaktion im Wendeherbst 1989 ohne Abschied, kam gleich ins Krankenhaus.

Die Zeitung war damals 8 bis 16 Seiten dünn, das Kollektiv groß, die Zahl der Rechtschreibfehler klein, die Arbeitsintensität entspannt. Ich konnte mich bald in die Kulturredaktion absetzen, eine Nische, in der es keine politischen Texte zu verfassen gab. Hier verständigten sich die Kollegen über die Vorgänge im Land und die Qualität des Blattes besonders offen und abfällig ­– als ahnten sie, dass nichts Bestand haben würde.

Die Kulturchefin Gisela Herrmann residierte als Gattin von Joachim Herrmann in Wandlitz bei den anderen Politbüromitgliedern. Aber sie war bürgerlich gebildet, loyal, ein Garant dafür, dass ihr Ressort unbehelligt blieb von Kritik. Die Rezensionen hatten klassische Qualität, Kollegen nutzten lustvoll aus, dass in der Kultur weniger strenge Tabus galten. 1987 druckte die Junge Welt einen finsteren Verriss über den sowjetischen Film „Die Reue“, eine Stalinismus-Abrechnung. In der Berliner Zeitung wäre ein solcher Text undenkbar gewesen. Das führte zu endlosen Debatten: Was würden wir uns noch alles gefallen lassen?

Doch theoretisch palavernde Journalisten standen im Oktober 1989 nicht an der Spitze des Umbruchs. Der ging von der Straße aus. Redakteure folgten ihm in verschiedenen Geschwindigkeiten. Wählten zum neuen Chefredakteur einen der Stellvertreter, Hans Eggert. Im Politikressort bildete sich rasch eine Reformergruppe, die zur Demonstration am 4. November mit einem Plakat antrat: „Journalismus weg vom Geggelband“. Heinz Geggel war zuständig für Medienkontrolle im Zentralkomitee.

Dann war er weg. Es begann, was gern die „wunderbare Zeit der Anarchie“ genannt wird: journalistische Arbeit ohne Aufsicht. Das Blatt........

© Berliner Zeitung