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Das Brot, das drei Leben rettete

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13.03.2025

Nichts zu essen, überall Schüsse und Flüchtlingsströme aus allen Richtungen: Vor den Soldaten der russischen Besatzungsmacht waren sie tagelang auf der Flucht gewesen. Doch jetzt brannte die Mittagssonne, der Hunger war unerträglich und mein vierjähriger Vater wollte keinen Schritt weitergehen. An jenem Apriltag kurz vor Kriegsende 1945 setzte er sich aus Protest an den Straßenrand in den Staub, obwohl in der Ferne bereits wieder die nächsten Schüsse zu hören waren. „Meine Großmutter hat mir fest zugeredet. Wien ist nicht mehr weit, sagte sie. Doch aus meiner Sicht waren wir unendlich weit weg von zu Hause“, erzählt mein Vater.

Wegen der zu Kriegsende besonders intensiven Bombenangriffe auf die Städte wurden viele Frauen und Kinder damals aufs Land umquartiert. Meine Großmutter, meine Urgroßmutter und mein Vater landeten zu Weihnachten 1944 in Neudorf bei Staatz im Weinviertel direkt an der heutigen tschechischen Grenze, damals Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Doch als die russische Rote Armee ins Burgenland und bald darauf in Richtung Wolkersdorf und Mistelbach vorrückte, ging es nicht mehr um die Flucht vor Luftangriffen, sondern um die Gefahr aus dem Osten. Auch die Richtung Prag zurückweichende deutsche Wehrmacht stellte eine große Bedrohung dar.

Mein Vater erinnert sich: „Meine Mutter entschied sich für den Marsch in die entgegengesetzte Richtung. In Wien war unser Zuhause, unsere Verwandten waren dort. Wir brachen nach der Messe am Ostersonntag 1945 (also am 1. April, Anm.) auf. Die Bäuerin, bei der wir untergebracht waren, gab uns Schmalzbrote und eine Flasche Haustrunk aus dem eigenen Keller mit. Alles wurde mit ein paar Decken und Kleidern in einem Kinderwagen verstaut, die Bäuerin machte jedem von uns ein Kreuz auf die Stirne und los ging’s.“

Nach etwa 15 Kilometern Fußmarsch blieben die drei für ein paar Nächte in einem Heustadl bei Hörersdorf (siehe untenstehende Karte), weil das NS-Ortskommando sie nicht in Richtung Wien durchließ. Doch eines Morgens waren die Kontrollen plötzlich weg. Vermutlich hatten sich die Nazis vor den heranrückenden Russen aus dem Staub gemacht. „Also ging es weiter nach Wolkersdorf. Noch vor Erreichen der Stadt wurden wir von der Front überholt. Unser Flüchtlingszug war inzwischen zu einem Treck von 200 bis 300 Leuten angewachsen. Später erzählte man mir, er hätte sich wie ein müder Faschingszug dahingeschleppt. Männer, vielleicht Deserteure, vielleicht Nazis, die sich schuldig gemacht hatten, waren als Frauen verkleidet, um unerkannt zu bleiben, Frauen wiederum als Männer oder mit von Asche gebleichten Haaren als alte Mütterchen, um Vergewaltigungen zu entgehen“, erzählt mein Vater.

Und plötzlich reichte es ihm. Er wollte nicht mehr weitermarschieren. Er setzte sich auf den Boden, maulte und heulte – und sah mitten in seinem Gezeter auf einmal im Straßengraben einen Riesenlaib Brot. „Der Laib Brot war so schwer, dass ich ihn gar nicht allein heben konnte. Er muss von irgendeinem Wagen heruntergefallen sein. Er war noch ein, zwei Tage über unsere Ankunft in Wien hinaus unsere einzige Nahrung“, sagt er.

Von dieser Begebenheit weiß ich, seit ich mich erinnern kann. Denn immer, wenn meine Großmutter zu Lebzeiten davon erzählte, sagte sie: „Es war das reinste Wunder!“

Historiker:innen haben errechnet, dass sich mit Beginn des Vorrückens der Roten Armee in Ostpreußen und in den........

© Wiener Zeitung