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Enfant terrible | Pier Paolo Pasolini von A  bis  Z

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Mit seinem ersten Film übernahm Pier Paolo Pasolini 1961 das Erbe des italienischen Neorealismus – und zertrümmerte es. Mit der Geschichte vom kleinen Zuhälter aus den römischen Vorstädten, die so direkt aus dem wirklichen Leben stammt wie Franco Citti und die anderen, die in diesem Film nichts anderes als sich selbst darstellen, trennt er sich von den humanistischen und identifikatorischen Aspekten des Neorealismus in der → Literatur und im → Film.

Stattdessen werden mythische Bilder und sakrale Ästhetiken eingesetzt: Was wir sehen, geschieht hier und jetzt, ganz direkt mit wirklichen Menschen und wirklichen Dingen, und es ist zugleich eine „Kraft der Vergangenheit“, die Pasolini in den Vorstädten sah, der Mensch vor seiner Verbürgerlichung. Accattone ist kein Film-Drama, sondern eine Tragödie, das heißt, das Prinzip Hoffnung, von dem der Neorealismus noch beseelt war, existiert hier nicht. Stattdessen vielleicht ein Prinzip der Gnade: Jetzt geht’s mir gut, sagt der sterbende Accattone.

Pasolini liebte das soziologische Reisen. Seine erste Film-Reise dieser Art war 1963 Comizi d’amore (dt.: Gastmahl der Liebe), auf den Spuren der Sexualität in Italien in der Form einfacher Gespräche mit Menschen aus verschiedenen Gegenden des Landes und verschiedenen Klassen, vom Arbeiter bis zum Intellektuellen. Was dabei herauskam, war eine verbreitete Einstellung zur Sexualität und zu ihrer alltäglichen Praxis, weit entfernt vom „offiziellen“ Bild.

Ein Moment direkter Wahrheit. Comizi d’amore lässt sich aber auch als Lehrstück für eine Art des Filmens (→ X – Der letzte Film) verstehen, die Pasolini auch theoretisch verhandelte: „Kino ist ein System von Zeichen, dessen Semiotik einer möglichen Semiotik des Systems der Zeichen der Realität selbst entspricht.“ Jeder Film erzeugt die eigene Sprache aus einer „Semiotik der Wirklichkeit“.

Neben Franco Citti ist Ninetto Davoli der Pasolini-Darsteller par excellence: Geboren in San Pietro a Maida in Kalabrien, seine Familie gehörte zu den vielen, die aus dem Süden kamen und in einem Vorort-Ghetto wie dem „Borghetto Prenestino“ landeten. Er ist das Gegenstück zum aggressiven Citti; mit weichen, ein bisschen engelhaft naiven und kindlichen Zügen befragt er die Welt wie ein Candide aus den Borgate nach dem Glück.

Nach einer Komparsenrolle in Das 1. Evangelium – Matthäus setzte ihn Pasolini in seinem vielleicht heitersten........

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