»Ein großes Puzzle«
Am Anfang war die Toilette, die Toilette in der Regionalbahn. Sie bereitete mir nach wenigen Minuten in Deutschland erste Probleme. Ich konnte kein Deutsch und wusste nicht, welche Bedeutung die Tasten hatten. So drückte ich statt der Spülung die Notfalltaste, der gesamte Zug musste für einige Minuten stoppen und der Schaffner nachschauen, ob alles in Ordnung war. Wegen meiner Neugier, gepaart mit fehlenden Sprachkenntnissen, bekam ich natürlich Ärger. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. War also meine Ankunft in Deutschland wortwörtlich »ein Griff ins Klo«?
Meine deutsche Geschichte begann am 4. Juni 1998 an einem heißen und sonnigen Tag am Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Ich war sieben Jahre alt und mit meiner gesamten Familie als jüdische Zugewanderte aus dem Donbass, für mich das ukrainische Ruhrgebiet, nach Deutschland gekommen. Wir standen am Bahnsteig mit nur elf Koffern, viel Hoffnung auf ein besseres Leben und reichlich Enthusiasmus. Wir strebten nach Glück. Uns bewegte dieses Gefühl, das auch vielen Abenteurern und Entdeckern gut bekannt ist.
Ein kleiner Spoiler zu Beginn, in diesem Buch soll es nur in Teilen um mich und meine Familie gehen. Autobiografische Migrantengeschichten und -bücher gibt es genügend, und meistens steht am Ende »Hurra Deutschland, danke« oder »Böses Deutschland, alles schlimm hier«. Das finde ich langweilig. Auch halte ich es für übertrieben, mit Anfang 30 bereits eine Autobiografie zu verfassen – als hätte ich schon genug erlebt für ein filmreifes Epos. Allerdings leben wir in Zeiten, in denen selbst junge Menschen Erfahrungen sammeln, die für mehrere Leben reichen würden.
In diesem Buch geht es vor allem darum, die Wesensmerkmale der deutschen Seele zu ergründen. Um meine Perspektiven und Erfahrungen besser einordnen zu können, beschreibe ich anfangs einige familiäre Hintergründe und Anekdoten aus den ersten Jahren in Deutschland. Welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich für jemanden, der aus der Ukraine stammt und zugleich jüdische Wurzeln hat, wenn er die deutsche Gesellschaft verstehen will?
Meine deutsche Geschichte spielt sich in den Zwischenräumen unterschiedlicher Narrative und Positionen ab. Um dies zu........
© Juedische Allgemeine
