»Die Idee eines neuen deutschen Judentums ist Folklore«
Aron, Hermann, Marguerite und Noam, was ist für euch typisch jeckisch?
Hermann Simon: Zum Beispiel, dass wir alle pünktlich zum Interview da waren. Ich finde das eine gute Eigenschaft und praktiziere das auch. Dabei ist mir egal, wenn der andere zu spät kommt. Hauptsache, ich bin pünktlich.
Marguerite Marcus: Ich bin eigentlich überhaupt nicht pünktlich, aber ich wusste, heute muss ich es sein! Typisch für Jeckes sind auch die Tischmanieren, die über Generationen weitergegeben werden. Bei einer befreundeten jeckischen Familie, die nach Israel auswanderte, hat das dann aber nicht mehr geklappt, die Kinder waren einfach schon zu israelisch.
Noam Petri: Dieses israelische Balagan, also Durcheinander, steht im Kontrast zur jeckischen Art. Ich habe beide Seiten in mir, und die kämpfen auch gegeneinander. Mein Uropa ist in Israel noch wie ein echter Jecke mit einer Jacke zum Strand gegangen. Das mache ich heute nicht mehr.
Hermann: Mir fällt auch eine Anekdote ein: Anfang der 80er-Jahre bekam ich ein Paket von einem Jecke aus Israel, auf dem die Briefmarken nicht gestempelt waren. Also löste ich sie ab und schickte sie ihm zurück, denn in der DDR hatte ich für diese Marken keine Verwendung. Wenig später schrieb er mir: »Vielen Dank für die Briefmarken. Ich habe sie selbstverständlich vernichtet, denn die Post hat ihre Leistung erbracht.«
Aron Schuster: Oft wird sich über diese Genauigkeit der Jeckes lustig gemacht. Aber man kann es auch positiv beschreiben: Wir sind verlässlich. Eine Zusage ist eine Zusage.
Euch vereint alle, dass eure Vorfahren schon vor der Schoa in Deutschland gelebt haben. Habt ihr je mit der Entscheidung eurer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehadert, zurück ins Land der Täter zu kommen?
Noam: Nein. Mein Urgroßvater hat Bergen-Belsen überlebt und ist mit meiner Urgroßmutter zunächst nach Amerika gegangen. Dort hat es ihnen überhaupt nicht gefallen, und sie wollten zurück. Da er sich wirklich voll und ganz sowohl deutsch als auch jüdisch gefühlt hat, kann ich nachvollziehen, dass er zurückgekommen ist.
Hermann: Ich habe die Entscheidung meiner Eltern für ein Leben in Ostdeutschland als gegeben hingenommen. Mir steht es auch nicht zu, da zu urteilen.
Marguerite: Und deine Mutter lebte ja immer hier! Sie war nie woanders. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Juden aus anderen Ländern, die nach der Befreiung der Konzentrationslager nur in Deutschland gestrandet waren. Auch meine Eltern sind in Berlin geboren und kannten das Deutschland vor dem Krieg. Sie hatten dadurch das Vertrauen, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Für meine Mutter war mit der Rückkehr nach Berlin auch unbewusst die Hoffnung verbunden, ihre verschollenen Eltern wiederzutreffen. Doch sie musste dann erfahren, dass sie bereits 1943 deportiert und in Auschwitz ermordet worden waren. Trotzdem sind meine Eltern geblieben.
»Da war meine Erziehung sehr eindeutig: Wir sind selbstbewusst zurückgekommen. Wir gehören hierher.«
Aron: Ich verspüre großen Respekt gegenüber meinen Großeltern, die trotz alledem den Mut gefasst haben, zurückzukehren und sich nicht nur hier niederzulassen, sondern auch wieder aktiv jüdisches Leben mitzugestalten. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie Überlebende mit solch einer Leidensgeschichte trotzdem versöhnlich auf die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft zugehen konnten. Aber es ist doch auch extrem bewundernswert. Ich glaube, wir haben alle die ähnliche Erfahrung gemacht, dass die Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland in der Familie nie wirklich infrage gestellt wurde. Da war meine Erziehung sehr eindeutig: Wir sind selbstbewusst zurückgekommen. Wir gehören hierher.
Wie haben deine Verwandten im Ausland darüber gedacht?
Aron: Ich erinnere mich an einen Besuch bei Verwandten in Kanada in meiner Kindheit. Sie fanden es komisch, dass meine Schwester und ich Deutsch sprachen. Da gab es viele Vorbehalte gegenüber der Entscheidung, im Land der ehemaligen Täter leben zu wollen. Generell sind die Jüdinnen und Juden in Deutschland auf viel Unverständnis im Rest der jüdischen Welt gestoßen, was lange auch zu einer gewissen Isolation führte.
Aron, du sitzt im Würzburger Stadtparlament und bist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Damit stehst du in bester Familientradition: Dein Vater ist Präsident des Zentralrats und dessen Vater war auch jüdischer Repräsentant und sogar Mitglied im Bayerischen Senat. Woher kommt der Wunsch, sich als Jude politisch in Deutschland einzubringen?
Aron: Ich kenne es nicht anders. In unserer Familie waren die Gespräche beim Abendessen immer geprägt von politischen Themen, seien es Herausforderungen in der Gemeinde oder gesellschaftliche Konflikte der Zeit. So habe ich das als Heranwachsender erlebt, und so war es davor vermutlich schon für meinen Vater. Das Engagement in der Gemeinde, aber auch darüber hinaus, war bei uns immer ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Das........
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