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Philosoph Shaul Setter: „In Israel hat ein Prozess der Barbarisierung eingesetzt“

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Seit zwei Jahren führt Israel Krieg. Was als Antwort auf das Massaker am 7. Oktober 2023 begann, wird heute von Vielen als Genozid bewertet. Der israelische Philosoph Shaul Setter spricht über die Widersprüche, in denen sich die israelische Opposition gegen diesen Krieg befindet.

„Das Desaster ruiniert alles und lässt alles an seinem Platz“, schrieb der französische Dichter Maurice Blanchot. In der Tat, alles ist ruiniert, aber nichts hat sich geändert. Gaza liegt in Trümmern, die Toten des 7. Oktober bleiben tot und zu ihnen haben sich die geschätzt 66.000 Toten eines Krieges gesellt, der kein Ende finden will, obgleich er jegliches Ziel verloren zu haben scheint.

In Israel gehen Hunderttausende auf die Straße, um ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln zu fordern. Etwas, das Benjamin Netanjahu mehrmals verhindert hat. Zu den Gräueltaten der israelischen Armee sagen sie indes wenig.

Der israelische Philosoph Shaul Setter arbeitet die Widersprüche dieser Opposition durch: Wie kann man etwas kritisieren, von dem man zugleich Teil ist? Wie lässt sich eine gemeinsame Zukunft denken, wenn jede Idee des Gemeinsamen bereits als Verrat des Eigenen gilt? Kurz: Wie lässt sich Veränderung im Angesicht des Desasters ermöglichen?

In Ihrem Essay „Nahkritik“ beschreiben Sie die israelische Antikriegsposition als eine Aporie: In Israel gilt sie als eine Bedrohung der Existenz des Staates, der als „Großisrael“, inklusive der besetzten Gebiete, gedacht wird. Außerhalb Israels dagegen erscheint sie als Feigenblatt, das dieser Idee des israelischen Staates noch Legitimität verleihen soll. Woher kommt diese Unmöglichkeit?

Shaul Setter: Eines der großen Projekte Benjamin Netanjahus war es, Kritik an der israelischen Regierung mit Antisemitismus ganz allgemein in Verbindung zu setzen. Jede Position, die das Handeln der Regierung infrage stellt, stellt dann automatisch die gesamte Existenz des Staates und damit zugleich die des jüdischen Volkes infrage. Hierin war er sehr erfolgreich. Es scheint immer schwerer zu werden, Kritiken der genozidalen Politik Israels von antisemitischen Positionen zu unterscheiden. Woran liegt das?

Es gibt ja jüdische Positionen, die sich gegen den Genozid richten, sogar gegen den israelischen Staat. Es gibt jüdische Positionen, die eine andere Idee von Souveränität vertreten, oder gar anti-nationalistisch sind. Selbst innerhalb des Zionismus gibt es Positionen, die nicht expansiv sind, sondern im Gegenteil eine........

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