Nine-to-five: Dem Zyklus hinterher
Meine Hand formt sich zur Schale. Ich strecke sie unter dem Tisch meiner Kollegin entgegen und forme lautlos mit den Lippen: „Hast du ein o.b.?" Die Szene ist so unspektakulär wie alltäglich. Und sie verrät einiges über die Stellung der Menstruation in unserer Gesellschaft: Sie findet statt. Sie findet heimlich statt.
„Die rote Welle.“ „Die Erdbeerwoche.“ „Der kleine Clown hat Nasenbluten.“ Die Liste der Synonyme ist lang. So lang, dass sie die Menstruation fast in Vergessenheit gerät. Kein Wunder: Die Regelblutung ist bis heute Tabu. Und Schocker: Sie ist nur ein kleiner Teil eines viel größeren Phänomens, über das wir noch weniger sprechen: Der weibliche Zyklus.
Der weibliche Menstruationszyklus dauert in der Regel 28 Tage und unterliegt dabei einem komplexen Wechselspiel hormoneller Phasen. Der männliche Hormonhaushalt hingegen folgt überwiegend einem tageszeitlichen Rhythmus: Testosteron steigt morgens an und fällt gegen Abend wieder ab. Fokus, Output, Reboot, Repeat.
Unsere gesamte Leistungsgesellschaft, unsere Arbeitszeitmodelle, unsere Meetings, unsere To-do-Listen, unsere Deadlines: Alles tickt im 24-Stunden-Takt.
„Unsere Gesellschaft ist nach einem Normmodell aufgebaut, das männlich, weiß und cis ist", sagt Zyklusmentorin und Pflegerin Anja Rattay im Gespräch. „Im Gesundheitswesen, in der Forschung, in der Bildung, im Arbeitsleben. Der weibliche Zyklus findet da schlicht keinen Platz."
Dabei wäre es nicht nur gesund, sondern auch effizienter, dem Zyklus Platz zu geben.........
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