Lokalaugenschein aus Damaskus: „Hebt die Sanktionen auf!“
„Wir können jetzt frei sprechen“, sagt Kellner Ilya in einem Café im Zentrum der Hauptstadt. An den Tischen entlang der Wände blubbern Wasserpfeifen. „Unter Assad hatten die Wände Ohren“, sagt er und stellt das Tablett mit dem Mokka auf den Tisch. „Jede unachtsam geäußerte Kritik am Regime konnte dich ins Gefängnis bringen.“
Doch all die Freude über das Ende der Diktatur hat einen bitteren Beigeschmack. „Die Menschen sind nach wie vor arm“, so der Kellner. „Die meisten Gäste können sich den Besuch im Kaffeehaus nur leisten, weil sie Verwandte im Ausland haben, die ihnen Geld schicken.“
Drei junge Lehrerinnen am Nachbartisch sehen das ähnlich: Seit einem Monat haben sie kein Gehalt ausbezahlt bekommen. „Die Staatskassen sind leer“, sagt Amina und stößt eine dicke Rauchwolke aus.
„Das durchschnittliche Monatseinkommen in Syrien liegt zwischen 20 und 50 US-Dollar“, sagt Rasha Siroub. An der Theke des Bistro Noura klappern Kaffeetassen. Die Portion Spaghetti kostet zehn Dollar: Wer hierher kommt, verdient überdurchschnittlich. Siroub trinkt ein Glas Wasser. Als Professorin für Wirtschaft verdient sie gerade einmal 40 US-Dollar im Monat. Der Wirtschaftspolitik der neuen Regierung kann sie wenig abgewinnen. „Al-Sharaa entließ eine Million Staatsangestellte“, so Siroub. Klar, der Staat müsse sparen. Aber gleichzeitig Leute zu entlassen und zahlreiche Subventionen zu streichen, sei für die Menschen verheerend.
Weil im Land kaum mehr etwas produziert wird, will die neue Regierung den Zufluss von Waren aus der Türkei ankurbeln – was grundsätzlich sinnvoll sei. Allerdings habe Al-Sharaa gleichzeitig die Einfuhrzölle gesenkt: „Syrien wird nun mit Billigprodukten aus der Türkei geflutet und dem Staat entgehen wichtige Einnahmen.“ Ein riesiges Problem sei das öffentliche Stromnetz, das nur zwei bis drei Stunden am Tag liefert: „Ohne Strom kein Wiederaufbau, keine Industrie und keine Jobs.“ Natürlich tragen auch die gegen Syrien verhängten Sanktionen einen erheblichen Teil zur Krise bei. Siroubs Botschaft an Europa: „Hebt die Sanktionen auf, aber verknüpft es mit Bedingungen an die neue Regierung.“
Im alten Suq von Damaskus drängen sich die Menschen, vorbei an Gewürzverkäufern, Teppichbuden und Antiquitätenhändlern, die geraubte archäologische Kulturgüter verscherbeln. Die bei Touristen früher beliebten Tassen mit dem Porträt von Bashar al-Assad wurden durch Socken ersetzt, die das karikierte Gesicht des Ex-Diktators zeigen – sein Hals betont lang, wie der einer Giraffe.
In einer belebten Gasse an der Rückseite der Umayyaden-Moschee stehen zwei Sicherheitskräfte der neuen Machthaber, beide in Schwarz gekleidet mit Gesichtsmasken. Einer der jungen Männer zeigt sich gesprächsbereit. „Ich begann meinen Kampf gegen das Regime mit 17“, sagt Khaldoun, seine Kalaschnikow mit dem hölzernen Kolben fest im Griff. Im Vorort Dschobar, wo er aufwuchs, schloss er sich der Ahfaad ar-Rasul Brigade an und wurde mehrmals verwundet. Als die Rebellen 2018 die Vororte an das Regime verloren, zog Khaldoun gemeinsam mit tausenden sunnitischen Kämpfern nach Idlib, der letzten verbliebenen Rebellenbastion im Nordwesten........
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