„Mein Kind, übersetz mir das bitte!“
Eine Stunde vergeht und ich sitze immer noch vor dem Finanzamt-Brief, den mir mein Vater hoffnungsvoll mit den Worten „Was wollen die von mir?“ in die Hand gedrückt hat. Auf ihm stehen Paragrafen, Zahlen und komplizierte Wörter, die ich nicht einmal aussprechen kann. Mir wird warm, mein Herz beginnt zu rasen und die ersten Tränen tropfen auf das Finanzamt-Logo. Mir ist bewusst, dass meine Eltern Probleme bekommen können, wenn ich nicht schnell herausfinde, was zu tun ist. Beschämt gehe ich zu meinem Vater und erkläre, dass ich ihm nicht helfen kann. „Wie kannst du das nicht verstehen? Ist das nicht Deutsch?“, bekomme ich als Antwort und ich höre die Frustration in seiner Stimme heraus. Ich bin zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt und auf meinen Schultern lastet bereits eine Verantwortung, die ich zwar noch nicht tragen kann, aber muss. Meine Eltern brauchen mich und wenn ich es nicht mache, wer dann?
Nicht nur ich musste schon sehr früh für meine Eltern diverse Briefe und bei Arztbesuchen und Elternsprechtagen übersetzen. Viele Migra-Kinder haben die Aufgabe, für ihre Eltern, die auf Grund ihrer Lebensumstände der Deutschen Sprache nicht mächtig sind, zu sprechen, um ihnen im Alltag zu helfen. Aber auch um sie vor der Scham zu bewahren, für ihre nicht perfekten Sprachkenntnisse von der Gesellschaft verurteilt zu werden. Auf TikTok tummeln sich Videos, in denen Migra-Kids sich darüber lustig machen, wie sie beim Besuch ihrer Eltern erstmal hundert Briefe durchgehen müssen. In der Migrationsforschung nennt sich dieses laienhafte Übersetzen „Language Brokering“. Was harmlos klingt, kann bei den Kindern und ihrer Beziehung zu ihren Eltern vieles auslösen.
So auch bei Esin: „Angefangen habe ich mit dem Dolmetschen schon in der Volksschule.“ Ihre Eltern sprechen kaum Deutsch, also mussten sie und ihre jüngere Schwester früh offizielle Briefe lesen und erklären – vom Finanzamt, von der Krankenkasse, alles eben. „Ich habe das meiste gar nicht verstanden“, erzählt die Anfang-30-Jährige mit türkischen Wurzeln. Viele Briefe waren kompliziert formuliert, und wenn sie nicht weiterwusste, wurde ihr Vater oft wütend: „Er meinte dann, ich sitz’ umsonst in der Schule.“ Für Esin war das belastend. „Ich hab’s gehasst. Jeder Brief hat bei mir Stress ausgelöst.“ Stolz habe sie nie empfunden, eher Überforderung. Peinlich war es auch, wenn sie Nachbarinnen und Nachbarn oder Freund:innen der Eltern helfen sollte und selbst........
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