Wie das Gedächtnis wirklich funktioniert
„Nie wieder vergessen: Vier Merktechniken für das ultimative Gedächtnis“: Mit Slogans wie diesem versprechen Influencer:innen, die Merkleistung zu erhöhen, denn gerade im Internet befeuern uns täglich Millionen Eindrücke. Doch welche davon behalten wir eigentlich? Wie sortiert das Gehirn und merkt sich das eine, vergisst aber das andere? Warum kenne ich heute noch viele Lateinvokabeln aus der Schule, die Mathematikformeln aber nicht? Merken wir uns lieber das Schöne und verdrängen das Schlechte?
Ohne Erinnerung wüssten wir nicht, wer wir sind, und hätten weder Geschichte noch Identität. Anlässlich des 80. Jubiläums des Endes des Zweiten Weltkriegs ist die WZ-Redaktion in die Erinnerungsgeschichte eingetaucht. Wir haben unsere noch lebenden Verwandten gefragt, wie sie diese Zeit im Gedächtnis haben. Mein Vater etwa war in den letzten Kriegstagen im Alter von nur vier Jahren mit seiner Mutter auf der Flucht vor den Russen, hatte großen Hunger und fand im Straßengraben einen Laib Brot. In einem ersten Gespräch erzählte er genau davon, in einem zweiten von einer etwas späteren Erfahrung. Anfangs waren seine Berichte schemenhaft, doch mit jedem Gespräch schärfte er sich weiter auf die Details ein, so lange, bis vor seinem geistigen Auge ein Kaleidoskop an Erinnerungen auftauchte, die ein immer vollständigeres Bild ergaben. Dabei folgte er dem Gefühl, das er hatte, damals als Bub.
Was passierte in dem Prozess? Wie funktioniert die Erinnerung?
Die Wissenschaft unterscheidet vier Formen des Lernens und Merkens. Wer beispielsweise eine Telefonnummer viele Male wiederholt, um sie sich einzuprägen, verwendet sein Arbeitsgedächtnis. Es ermöglicht die Aufnahme, Verarbeitung und Zwischenspeicherung von Informationen und ist für kognitive Aufgaben wie Lesen, Lernen und logisches Denken zuständig. Das Arbeitsgedächtnis hat eine begrenzte Kapazität: Wenn die Festplatte zu voll wird, leistet sie weniger.
Das prozedurale Gedächtnis ist geräumiger. Es baut sich unbewusst auf. Hier werden automatisierte Handlungs- und Bewegungsabläufe gespeichert, wie Gehen, Tanzen, Fahrradfahren, Autofahren oder ein Instrument zu spielen. Es lernt, begreift und wiederholt etwas so lange, bis ein Automatismus eintritt.
Das deklarative Gedächtnis speichert bewusst Erlebtes, das sich in Worte fassen lässt, wie eine Hochzeit, ein Kinoerlebnis oder eine spannende Reise. Es unterteilt sich in das semantische Gedächtnis, mit dem wir uns Fakten des Allgemeinwissens einprägen – die Donau fließt durch Wien, Deutschlands Hauptstadt ist Berlin – und in das episodische Gedächtnis, mit dem mein Vater seine Kindheitserlebnisse abgerufen hat.
Das episodische Gedächtnis speichert biografische Daten und Erlebnisse. „Damit merken wir uns, was wann, wo, wie und mit wem stattgefunden hat. Um sich Erlebtes zu merken, wird eine Struktur namens Hippocampus tätig. Dabei werden bestimmte Zellen, die Verbindungen namens Synapsen eingehen, aktiviert. Je öfter wir diese Zellen aktivieren, umso mehr verstärken wir diese Synapsen und umso leichter kommt der Kontext wieder hoch, und das ist dann eine Erinnerung. Es wird eine Erinnerungsspur gelegt, die sich Engramm nennt“, sagt die deutsche Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer zur WZ. Die ärztliche Direktorin der Universität Heidelberg und ihr Team können diese Gehirnaktivität in Form von........
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