Keine Klicks für Tränen
Die Sonne knallt auf den Asphalt. Mittwoch, 9.53 Uhr, kurz vor der Schweigeminute in ganz Österreich. Jugendliche sind in Graz zu ihrer Schule, der BORG Dreierschützengasse, zurückgekehrt, um zu trauern. Sie hocken sich vor den Eingang, umarmen sich, weinen, legen Rosen, Kerzen und Zeichnungen auf den Boden. Auch einige Politiker:innen sind gekommen.
Und wir. Die Medien.
Mit aufgestellten Kameras, gezückten Handys, Mikrofonen, Schreibblöcken und Tablets. Sobald jemand eine Blume ablegt, die Hände vors Gesicht schlägt, laut aufschluchzt, hält jemand drauf. Die Absperrung direkt vor der Schule, hinter der die meisten Kinder und Jugendliche trauern? Höchstens symbolisch. Die Medienschaffenden heben ihre Kameras einfach darüber, fangen die Bilder ein, setzen die trauernden jungen Menschen der Öffentlichkeit aus, nehmen ihnen die Privatsphäre. Tränen sind Klicks.
Ich bin eine von „den Medien“. Handy in der Hand, Laptop in der Umhängetasche. Ich stehe etwas abseits. Und mir ist schlecht. In meinem Bauch das Gefühl von Scham und tiefem Unbehagen. Tausend Gedanken wirbeln durch meinen Kopf: Was machen wir da? Wieso belagern wir die Jugendlichen? Warum hält jemand dem weinenden Kind die Kamera ins Gesicht? Wo sind wir gelandet? Wo führt das hin?
Und: Da kippt etwas, da gerät etwas ins Rutschen.
Am Dienstag wurden im BORG Dreierschützengasse in Graz zehn Menschen ermordet, der Täter – ein 21-jähriger Ex-Schüler – erschoss sich selbst. Das jüngste Opfer war 14 Jahre alt. Die Stadt steht unter Schock. Ganz Österreich trauert.
Es ist unfassbar, was passiert ist.
Aber das, was danach passiert, ist es – auf andere Art und Weise – auch.
Die Szene vor der Schule ist beispielhaft und reiht sich ein in die Chronologie des Versagens in der Welt der Medien: Schon am Tag der Tat, während der Rettungseinsatz noch läuft, interviewt ein rechter Sender eine unter Schock stehende Schülerin. Rasend schnell werden Videos veröffentlicht und geteilt. Auf........
© Wiener Zeitung
