menu_open Columnists
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close

Ein Zechpreller als Bundeskanzler

22 79
13.07.2025

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sitzen mit Ihrer Freizeitfußballmannschaft nach dem Training in einer Kneipe. Es geht hoch her, Runde um Runde wird bestellt. Alle anderen trinken Bier für vier Euro das Glas, sie selbst, ein reicher Erbe mit Aktienvermögen und Aufsichtsratsmandaten, trinken jede Runde einen Cocktail für acht Euro.

Christian Stöcker, Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation und mehrere Forschungsprojekte über digitale Öffentlichkeit und Desinformation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.

Als der Kellner am Ende des Abends kassieren will, schlagen Sie zunächst vor, dass die Gesamtrechnung einfach durch die Zahl der Anwesenden geteilt wird. Betretenes Schweigen senkt sich über den Tisch. Alle haben gesehen, dass Sie für doppelt so viel getrunken haben wie alle anderen. Außerdem sind viele in der Runde weit weniger wohlhabend. Dann kommt Ihnen, beschwingt von den vielen Cocktails, noch eine bessere Idee: Sie bezahlen einfach gar nichts. Schließlich fällt Ihr Anteil an der Gesamtrechnung ja kaum ins Gewicht, sagen Sie. Der Kellner wird langsam unruhig. Der Rest der Runde beginnt zaghaft zu murren.

Da sagt Ihr Nachbar, ein Lagerarbeiter mit geringem Einkommen: »Hast recht, bei mir stimmt das aber ja sogar noch mehr: Ich hab’ ja nur Bier getrunken. Ich zahl’ auch nichts, das macht ja kaum was aus.« Während der Rest der Runde nach und nach zu dem gleichen Schluss kommt, geht der Kellner hinter den Tresen. Er redet kurz mit seinem Chef und ruft dann die Polizei.

Der reiche Zechpreller in dieser Analogie, das soll Deutschland sein, wenn es nach Friedrich Merz geht. »Deutschland hat ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung«, hat der Bundeskanzler diese Woche im Bundestag gesagt, mit einem Lächeln auf den Lippen, und »wir stellen ungefähr zwei Prozent des Problems dar, was CO₂-Emissionen betrifft«. Wenn Deutschland morgen aufhören würde, CO₂ zu emittieren, so Merz in belehrendem Ton, »würde keine einzige Naturkatastrophe auf dieser Welt weniger geschehen, würde kein einziger Waldbrand weniger geschehen, würde keine einzige Überschwemmung in Texas........

© Spiegel Online