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Adolescence, oder die Psychologie der antifeministischen Reaktion

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22.04.2025

Die britische Netflix-Serie Adolescence ist in aller Munde und das zu Recht. Wie keine Zweite erforscht sie die Abgründe des modernen Antifeminismus. Doch liegt alles nur am Smartphone?

Ein schmächtiger dreizehnjähriger Junge mit Sommersprossen im Gesicht sitzt an einem Tisch. Er ist noch ein Kind und doch bewegt er sich schon wie ein Erwachsener – wie ein Mann. Breitbeinig und betont zurückgelehnt, sitzt er auf dem Stuhl. Er wischt mit der flachen Hand über den Tisch. Einmal, zweimal. Dann nimmt er einen Schluck aus einem Plastikbecher. Gegenüber von ihm sitzt eine Psychologin. Sie ist gekommen, um das Innenleben dieses Jungen zu verstehen. Ihr Gespräch dauert fast 50 Minuten. Langsam, geradezu quälend langsam, wandert die Kamera um die beiden herum. Noch nie war ein Gespräch zwischen zwei Menschen so nervenaufreibend. Immer wieder zerbricht die Maske der Coolness, die der Dreizehnjährige so krampfhaft versucht aufrechtzuerhalten. Er springt auf, schlägt mit den Fäusten auf den Tisch, verteilt sein Getränk über den Boden und schreit die Psychologin mit bebender Stimme an: „You do not tell me when to sit down. You do not control what I do in my life! Don’t signal me like a fucking queen.“ Die Psychologin verlässt erschüttert den Raum. Als sie wiederkommt, sitzt der Junge zusammengesunken da. Er entschuldigt sich. Das Gespräch geht weiter. Es geht um Männlichkeit, den Vater, verzerrte Schönheitsvorstellungen und Sex. Dann wieder ein Ausbruch, er wirft den Stuhl durch den Raum und baut sich drohend vor ihr auf, nur um sofort wieder jämmerlich in sich zusammenzubrechen. Als sie ihm schließlich mitteilt, dass dies ihr letztes Gespräch sei und sie nun gehen müsse, reagiert er verzweifelt: „Why? It doesn’t seem like a proper goodbye? Did you even like me one bit? Because I like you. Not like that, not fancying you. Just as a Person.“ Sie antwortet: „I was here as a professional.“ Das wollte er nicht hören, Wut und Verzweiflung wechseln sich auf seinem Gesicht ab. Der Dreizehnjährige muss schließlich von einem Pfleger aus dem Raum geschleppt werden. Den ganzen Weg zurück in die Zelle hört sie ihn schreien. 

Dieser Junge heißt Jamie Miller, oscarreif gespielt von Owen Cooper (Jahrgang 2009!) und er hat wenige Tage zuvor seine Mitschülerin Katie Leonard ermordet. Sieben Messerstiche in die Brust, in den Hals, ins Bein. Die Serie nimmt die Zuschauer:innen daraufhin mit auf eine Reise, die uns zeigen wird, dass dieser Femizid nicht im Kopf dieses Dreizehnjährigen entstand. Der Täter ist nur die Spitze des Eisberges. Die Gesellschaft, in der Jamie, Katie, ihre Klassenkamerad:innen, ihre Eltern und Lehrer:innen gesetzt werden, die ist es, die ist der wirkliche Protagonist dieser Serie. Dabei möchte die Serie hinter die Fassade schauen, unentwegt, niemals blinzelnd verfolgt die Kamera das Geschehen, fährt mit unter Haut nahe an die Gesichter heran oder filmt über die Schulter mal dieser und jener Figur. Die Zuschauer:innen werden so angehalten, Gesichtsausdrücke und Gesten genau zu beobachten und zu interpretieren. Jede Folge besteht aus einer einzigen, einstündigen Plansequenz, geschnitten wird überhaupt nicht. Ganz abgesehen davon, dass dies geradezu eine technische und schauspielerische Meisterleistung ist, verleiht es der Interaktion der Figuren eine unerreichte Eindringlichkeit, die einem mitunter einen Schauer über den Rücken jagt. 

Jamies Vater ist ein gescheiterter Kleinbürger mit einem kleinen Klempnerunternehmen und er war, wie viele Väter in der Serie, während der Entwicklung seines Sohnes kaum anwesend. Wenn er einmal da war, dann versuchte er, seinen Sohn vom Sport zu überzeugen. Fußball oder Boxen. Doch Jamie war schon immer klein und dünn und er malte lieber, als auf dem Platz zu stehen. Und wenn er ausrutschte oder das Tor verfehlte und zu seinem Vater auf der Tribüne hinüber sah, dann sah dieser in die andere Richtung. So lernte Jamie schon früh, dass (echte) Männer nicht versagen. Später, nachdem er von seinen Eltern einen Computer geschenkt bekam, da sagten ihm auch die Männlichkeitsinfluencer auf Youtube, Andrew........

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