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Magazin: Souveränes Europa: Eine linke Dystopie

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22.04.2025

Was haben Karl Kautsky, Jan van Aken und Sahra Wagenknecht mit Boris Pistorius gemeinsam? Sie eint der Wunsch nach einem souveränen Europa. Ein fortschrittlicher Wunsch ist es aber nicht.

Verteidigungsminister Boris Pistorius war es, der den neuen deutschen Anspruch offen ausgesprochen hat. „Deutsche Kriegstüchtigkeit“ lautet die Losung. Mit der Zeitenwende der Ampel-Regierung begann eine Offensive gegen den historisch verankerten Pazifismus. Die kommende Merz-Regierung wird sie verstärken. Was einst als Lehre aus Faschismus und Weltkrieg galt, wird nun als Ballast entsorgt. Getragen wird diese Entwicklung durch Narrative, Putin würde auf Brandenburg zielen und die USA seien unter Trump kein verlässlicher Schutzpatron mehr. Die Rufe nach „Verteidigung“ werden lauter – nur ein Euphemismus für die nationale Aufrüstung. Es handelt sich um einen groß angelegten ideologischen Kampf, bei dem die linken Kräfte keine gute Figur machen.

Der Ruf nach „Souveränität“ verbindet längst nicht mehr nur rechte Kräfte. Er zieht sich von der AfD bis hin zu linkspopulistischen Figuren wie Sahra Wagenknecht oder Jean-Luc Mélenchon, die dem Nationalismus einen sozialen Anstrich geben. Was bleibt von linker Politik, wenn sie die nationale Souveränität zur letzten Utopie macht?

Und die Linkspartei hängt ihr Mäntelchen nach dem Wind. Nach einem Wahlkampf, der ihr neue Beliebtheit verschafft hat, ist sie bei der ersten Probe durchgefallen, als Bremen und Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat für die Aufrüstung gestimmt haben. Der Parteivorsitzende Jan van Aken will „Europa als Friedensmacht“ etablieren. Es handelt sich dabei um eine europäische Form des Souveränismus. Im folgenden Artikel betrachten wir die Grundlage, auf der die Linkspartei dabei ist, mit den pazifistischen Werten zu brechen.

Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge wären rund 17 Prozent der Bevölkerung bereit, im Falle eines militärischen Angriffs das Land mit der Waffe zu verteidigen. Das entspricht mehreren Millionen Menschen im wehrfähigen Alter. Schwarz-Rot hat vor, einen freiwilligen Wehrdienst nach schwedischem Modell einzuführen, behält sich aber vor, diesen verpflichtend zu machen, wenn die Zahl der Rekrutierten zu gering ausfällt. Zwar lehnen die Jugendlichen mehrheitlich die Wiedereinführung der Wehrpflicht ab, doch bei den Umfragen für eine „soziale Dienstpflicht“1 gibt es eine knappe Mehrheit dafür. Auch unter den Parteien des neuen Bundestags gibt es eine Mehrheit für die Einführung des Pflichtjahres.

Schon vor Trumps Amtsantritt gab es angesichts des Kriegs in der Ukraine Skepsis daran, dass die USA unter seiner Führung weiterhin die militärische Sicherheit in Europa garantieren werden. Dies hat sich nur verstärkt. Laut einer ZDF-Umfrage befürworten 76 Prozent und Mehrheiten der Wähler:innen aller Parteien die Aufrüstung der Bundeswehr, auch wenn dafür zusätzliche Schulden gemacht werden müssen. 

Es findet ein Umdenken statt. Historisch gesehen war Deutschland in der NATO stets ein bedeutender Verbündeter, der im Kalten Krieg als Vorposten gegen den Warschauer Pakt2 diente. Die Bundeswehr wurde aufgerüstet und Hunderttausende NATO-Truppen – vor allem aus den USA – waren in der BRD stationiert. Das Land diente als strategischer Stützpunkt der USA, inklusive der Beherbergung von Atomwaffen.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg begriff sich die Bundesrepublik als pazifistisch, in dem Sinne, dass sie keine eigenen Kriege ohne Verbündete starten würde. Pazifismus ist hier ein sehr relativer Begriff, da sich Deutschland ab 1955 wieder bewaffnete und mit großer Truppenstärke für einen Krieg bereit hielt. Er bedeutet auch nicht, dass die BRD sich bislang aus militärischen Konflikten herausgehalten hätte. Dies gilt insbesondere für die Einsätze im Kosovo und in Afghanistan. Ebenso hat Deutschland Waffen in viele kriegführende Länder geliefert, wie aktuell an die Ukraine oder an Israel beim Genozid in Gaza, in die Türkei oder an Saudi-Arabien 

Es war der Pazifismus der „Pax Americana“, die vor allem von der militärischen Dominanz der Vereinigten Staaten geprägt war. Während dieser Zeit war es für europäische Staaten, einschließlich Deutschland, relativ einfach, auf die militärische Präsenz der USA zu vertrauen. Es war jene weltgeschichtliche Etappe, die relativ stabile und sichere Bedingungen innerhalb des westlichen Bündnissystems sicherstellte. 

Im Protest gegen die Aufrüstung liegen die historischen Wurzeln der Friedensbewegung, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Rolle spielte. Ein Teil dieser Bewegung fand seinen Weg in die Grüne Partei, die sich jedoch im Laufe der Zeit um 180 Grad zu einer bellizistischen, also kriegstreiberischen Partei gewandelt hat. Seit dem Kosovo-Krieg (1999), als Joschka Fischer als Außenminister den ersten deutschen Kampfeinsatz seit 1945 mitverantwortete, haben die Grünen ihre pazifistischen Wurzeln endgültig abgelegt. Vom Afghanistankrieg über die Unterstützung militärischer Einsätze in Mali bis hin zu den massiven Waffenlieferungen an die Ukraine prägen sie heute eine Außenpolitik, die zunehmend auf militärische Stärke setzt. Mit dem Beginn des Ukrainekriegs und später dem Genozid in Gaza hat der grüne Bellizismus einen Sprung gemacht. Die verbliebenen Elemente der pazifistischen Bewegung finden ihren Ausdruck jährlich in den Ostermärschen sowie in Mobilisierungen gegen die NATO-Sicherheitskonferenz. 

Der staatliche Pazifismus ist schlicht nicht mehr zeitgemäß. Die außenpolitische Neuausrichtung der USA unter Trump, deren Wurzeln aber bereits Obama mit dem „Pivot to Asia“ legte, bedeutet eine Abkehr ihrer Rolle als „Sicherheitsgarant“ in Europa. Sie stellt einen Bruch mit der Nachkriegsordnung und dem Kalten Krieg dar. In Europa löste sie eine tiefgreifende Krise der transatlantischen Beziehungen aus. Die Abkehr der USA zwingt viele europäische Staaten dazu, ihre Militärstrategien zu überdenken. Um in der sich wandelnden Weltordnung eine aktive Rolle spielen zu können, setzt Deutschland auf eine „kriegstüchtige“ Bevölkerung. Die Karte der militärischen Drohung verdrängt die Karte der Diplomatie. Boris Pistorius fasste diese Logik gemäß dem antiken römischen Militärtheoretiker Flavius Vegetius in einem Interview mit dem Stern zusammen: „Wer Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein.“ Demnach könne es nur Frieden geben, wenn die möglichen Kosten für den Feind höher liegen als der Ertrag. Aufrüstung diene der Abschreckung. Wir hören dieses Argument seit dem russischen Angriff im Februar 2022 zur Genüge. Um Putins Vormarsch zu stoppen, müsse man ihm nun eine schlagkräftige Armee entgegenstellen.

Putin schielt auf Osteuropa, Trump auf Grönland und auch sonst kann man sich nicht mehr auf die US-Sicherheitsgarantien verlassen, so die Aussagen der tragenden Parteien des deutschen Regimes, CDU/CSU, SPD und Grüne. Die Zusammenarbeit in der NATO und die Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen stehen auf dem Spiel. Trump versucht, der Welt mit seinen Schutzzöllen einen umfangreichen Handelskrieg aufzuzwingen, auch wenn er vorerst zurückrudern musste. Und politisch hat sich Elon Musk mit der Unterstützung der AfD offensiv in die deutsche Innenpolitik eingemischt. Der Ruf nach Souveränität ist also dem Umstand geschuldet, dass Deutschland nicht länger im Schutz der USA mitschwimmen kann.

Dies gibt dem nationalistischen Souveränismus Auftrieb, wie er von der AfD eingefordert wird. Und auch der Ruf nach „europäischer Souveränität“ wird zunehmend lauter, von Macron, den Grünen bis zur Linkspartei. Die Debatte über mehr strategische Autonomie und die Notwendigkeit einer gesamteuropäsichen Aufrüstung ist voll im Gange. Doch es bleibt nicht nur diskursiv. Das gigantische Aufrüstungsprogramm ist in Eiltempo durch den alten Bundestag und den aktuellen Bundesrat durchgepeitscht worden. Die neue Regelung ermöglicht es, alle Kreditaufnahmen für die Aufrüstung von der Schuldenbremse auszunehmen – in theoretisch unbegrenzter Höhe. Auch auf europäischer Ebene sollen 800 Milliarden Euro in die Aufrüstung gesteckt werden.

Doch aus der Linkspartei bleibt der Gegenwind nicht nur aus. Mit der Abstimmung im Bundesrat folgt sie derselben Logik. Der Grandseigneur der Linken, Gregor Gysi, drückt das folgendermaßen aus: 

Die USA fürchten, dass China zur Weltmacht Nummer eins aufsteigt, weshalb sie glauben, autoritärer werden zu müssen, um effizienter zu agieren. Das zwingt uns dazu, ernsthaft für unsere Freiheit, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen – sowohl gegen innere als auch äußere Bedrohungen.

Seine Schlussfolgerung besteht darin, dass „Europa als Ganzes handlungsfähig sein muss“. Alleine hätten die Nationalstaaten keine Chance. Im Einklang mit den Bestrebungen des deutschen Imperialismus wird aus dem „diplomatischen“ Pazifismus ein „Aufrüstungs-Pazifismus“. Weiter schreibt Gysi auf X:

Wir müssen uns – von der CSU bis zur Linken, aber auch mit Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmerverbänden, Künstlern und Wissenschaftlern – darauf verständigen, dass wir unsere Grundfesten von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gemeinsam verteidigen.

Es ist nötig, sich zu vergegenwärtigen, mit wem Gysi hier die Einheit sucht: den Kapitalverbänden, deren Firmengeschichten bis in die NS-Zeit zurückreichen. Gysi drückt offener als jede andere Figur seiner Partei aus, dass er die Perspektive in der Unterordnung unter das Kapital sieht.

Gysi reiht sich dadurch ein in die Front der „europäischen Souveränität“, auch wenn er sie von links korrigieren mag. Der Reformismus kann sich in dieser Zuspitzung nicht mehr auf friedenspolitische Phrasen beschränken. Der Druck ist gewaltig gestiegen, unter dem Narrativ: „Aus dem Westen kommt Trump, aus dem Osten kommt Putin.“ Dies ist der zentrale Grund, weshalb sich die Linkspartei bei der Abstimmung im Bundesrat nicht einfach auf pazifistische Positionen zurückziehen konnte. Doch es ist nicht nur die Ideologie, die hinter diesen Wende steht, sondern die materiellen Interessen der Linkspartei in Landesregierungen. Die Linkspartei wirft Sahra Wagenknecht und dem BSW richtigerweise Sozialchauvinismus vor, doch in dieser Hinsicht handelt sie selbst sozialchauvinistisch. Damit sie die Regierungen nicht platzt und dabei mit den Geldern des Sondervermögen „wohlfahtstaatliche” Reformen plädiert, hat sie sich gebeugt. Der Anspruch, imperialistische Staaten und Institutionen zu verwalten, immer wieder solche Fälle produzieren.

Der europäische Souveränismus zielt auf eine strategische Neuformierung der herrschenden Klasse in Europa ab – eine Reaktion auf die Krise der transatlantischen Ordnung und den wachsenden globalen Wettbewerb. Er dient der Reorganisation imperialistischer Handlungsfähigkeit nach außen und autoritärer Austeritätspolitik nach innen. Es handelt sich um eine Vision der europäischen Bourgeoisien, in der Europa als Einheit eigenständig politische, wirtschaftliche und militärische Entscheidungen trifft und den wirtschaftlichen Einfluss der vor allem deutschen und französischen Bourgeoisien ausweitet. Das Programm dafür heißt „strategische Autonomie“. Sie räumt der „wirtschaftlichen Unabhängigkeit“ und den „Sicherheits- und Verteidigungsfragen“ Vorrang ein. 

Europa ist ein von vielen Widersprüchen durchzogener Staatenbund, weshalb ein europäischer Souveränismus immer brüchig sein muss. Die EU hat immer wieder Spaltungen erlebt in Phasen wie der Eurokrise (mit der Austeritätspolitik in Griechenland als schärfster Ausdruck), Brexit und Rechtsruck (Anti-Migrationsgesetze, Abschiebungen, rechter Terror, Abschottung der Grenzen, Militarisierung). Sie ist heute alles andere als eine souveräne Einheit. Mit dem Ukrainekrieg hat die EU zwar durch Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine eine fragile Einheit herstellen können (durch die De-facto Eliminierung der Position Ungarns). Die EU gegen Russland und Trump zu vereinheitlichen, ist eine Dystopie. Nicht nur Ungarn, sondern Akteure wie Polen oder Italien sehen keinen Vorteil darin, sich einem von Deutschland und Frankreich dominierten Souveränitätsprojekt unterzuordnen, etwa mit der Abschaffung des........

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