Das Ende der Flaute
Stand: 17.09.2025, 17:43 Uhr
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Nach horrenden Mieterhöhungen und Nachzahlungsforderungen gründet sich 2018 in Berlin das Bündnis „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Sieben turbulente Jahre später zieht Mitinitiator
und Historiker Ralf Hoffrogge in „Das laute Berlin“ eine Bilanz
der Bewegung, die noch viel vor sich hat
Ein Buchauszug
Ich spreche gerade zum ersten Mal auf einer Kundgebung. Aber wir müssen etwas unternehmen“ – so begrüßt Silke Fehst an einem Samstag im April 2024 ihre Nachbarn in der Weißen Siedlung im Norden Neuköllns. Die 51-Jährige steht auf einer Wiese, hinter ihr ragen die weißen Wohntürme aus den 1970er Jahren in den Himmel. Um sie herum haben sich 120 Mieterinnen und Mieter versammelt. Sie protestieren gegen die Adler-Gruppe, der die einstigen Sozialbauten seit 2016 gehören. Mit Adler gab es drei Mieterhöhungen, doch die Siedlung mit ihren rund 1700 Wohnungen verfällt zusehends. In einem offenen Brief beklagen die Bewohnerinnen und Bewohner undichte Fenster, kaputte Fahrstühle und Heizungen sowie Schimmel in den Wohnungen. Im Februar habe es gebrannt, doch niemand kümmerte sich: „Die Hausverwaltung hat sich jeglicher Verantwortung entzogen“, klagt Fehst. Sie habe die Leute ohne Wasser und Strom in ihren Wohnungen sitzenlassen. Den Menschen reichte es. Über 1000 Mieterinnen und Mieter wagten sich vor und zeichneten den Brandbrief gegen ihren Vermieter. Ein „großer Kraftakt“ sei das Sammeln der Unterschriften gewesen, berichtet Mieter Tobias Lemme. In der Siedlung wohnen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, man habe Flyer in sechs Sprachen verfasst, um alle zu erreichen, auch viele Haustürgespräche wurden geführt. Mittlerweile sind die Nachbarn organisiert, nennen sich „Kiez-Initiative Weiße Siedlung“. Im Januar zogen einige von ihnen vor das Abgeordnetenhaus und verlangten Rederecht im Ausschuss für Stadtentwicklung.
Sie wenden sich an die Politik, denn vom Vermieter haben sie nichts zu erwarten. Adler ist angeschlagen. Für die Jahre 2022 und 2023 fand das Unternehmen keine Wirtschaftsprüfer, im Juni 2023 durchsuchte die Staatsanwaltschaft Frankfurt den Konzernsitz. Der Verdacht: Falschbilanzierung und Marktmanipulation. Adler habe seine Immobilien zu hoch bewertet, um Kredite zu erlangen. Eine Restrukturierung Ende 2023 hielt das Unternehmen, das mit etwa 18 000 Wohnungen in Berlin zu den Enteignungskandidaten gehört, über Wasser. Der Senat hatte auch Adler 2022 in sein Wohnungsbündnis geholt und lobte „Kooperation statt Konfrontation“. Schon im Folgejahr kündigte Adler das Bündnis für eine Runde ungebremster Mieterhöhungen. Der Senat ließ die Dinge laufen. Doch während die Politik sich ziert, wird in Neukölln organisiert.
Bei Gründung der Kiezinitiative Weiße Siedlung halfen das „Kiezprojekt“ des Berliner Mietervereins und die Starthilfe-AG von Deutsche Wohnen & Co enteignen. Damit ging eine Saat auf, die mehr als ein Jahr zuvor gelegt wurde. Weil sich die Organizing-Bemühungen bei Deutsche Wohnen & Co enteignen lange auf den Volksentscheid konzentriert hatten, wurden nach der Abstimmung Energien frei. Ab 2022 ging man zurück zu den Wurzeln. Mieterinnen und Mieter bekamen Hilfe zur Selbsthilfe im Kampf um ihre Wohnungen. Doch anders als 2016 in der Otto-Suhr-Siedlung waren mehr als eine Handvoll Leute dabei. Bereit standen die Kiezteams, die Starthilfe-AG, der Berliner Mieterverein – alle zogen an einem Strang. Das im November 2022 gemeinsam gegründete Kiezprojekt beschäftigt drei hauptamtliche Organizing-Kräfte. Zahlreiche Ehrenamtliche unterstützen........
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