„Wir leben in einer hochkomplexen Gesellschaft“
Frau Küpper, gibt es die typische Nichtwählerin oder den typischen Nichtwähler?
Nein. Aber es gibt bestimmte Muster: Da sind die, die sporadisch nicht wählen gehen, und die, die dauerhaft nicht wählen. Sehr allgemein formuliert: Je unzufriedener die Leute sind, desto dauerhafter entscheiden sie sich, nicht wählen zu gehen.
Wie wird dauerhaftes Nichtwählen begründet?
Manche haben schlicht kein Interesse an Politik, sind sich aber gleichzeitig nicht bewusst, was alles politisch ist. Wenn es keine Vorbilder gibt, wenn Eltern und Freunde nicht wählen gehen, sprich: wenn es nicht die soziale Norm um einen herum ist, wählen zu gehen, dann ist es auch unwahrscheinlicher, dass diese Menschen selbst wählen gehen. Andere Gründe sind: das Gefühl von politischer Machtlosigkeit oder der bewusste politische Protest – also der Wahlboykott als Denkzettel. Es bleibt abzuwarten, ob sich hier auch neue Protestmilieus herausbilden, die sich im „Widerstand gegen das System“ sehen und die deshalb auch nicht wählen gehen. Kurz: Nicht wählen zu gehen kann sowohl mit Politikferne zu tun haben als auch eine sehr bewusste politische Entscheidung sein.
Sebastian, 31 Jahre, IT-Experte:
„Ich bin der Auffassung, dass unser demokratischer Prozess nicht geeignet ist, die besten Menschen als Volksvertreter auszuwählen – moralisch und auch hinsichtlich ihrer Kompetenz. Das ist ein strukturelles Problem des politischen Systems. Statt um gute politische Willensbildung und Gestaltung geht es vor allem um Machtspielchen und Absprachen in Hinterzimmern.
Als die Demokratie erfunden wurde, war noch nicht absehbar, dass einmal über Themen wie Atomkraft entschieden werden muss. Das ist alles so hochdifferenziert und vielschichtig, dass es noch nicht mal Experten komplett überblicken. Wie sollen dann Bürger und Politiker sinnvoll über so ein Thema entscheiden? So ist das meiner Auffassung nach bei sehr vielen politischen Fragen.
Vielleicht wird es in Zukunft mal eine technische Lösung geben, mit der man datengetrieben herausfindet, welche politischen Entscheidungen sich die Menschen wirklich wünschen. Auf diese Weise könnte es möglicherweise gelingen, die wahren Präferenzen der Leute und ihre Wertehierarchie in Politik umzusetzen.“ (og)
Sticht eine bestimmte Gruppe von Nichtwählerinnen und Nichtwählern heraus?
Überproportional häufig nicht wählen gehen Menschen aus prekären sozialen Milieus, jene mit niedriger Schulbildung, geringerem Einkommen und Berufsstatus. Wählen zu gehen ist in Deutschland sehr bildungsabhängig. Themen wie Wahlen und politische Beteiligung werden häufig in der Oberstufe der Schulen besprochen, manchmal auch in Schülerparlamenten eingeübt. Mit 18 zum ersten Mal wählen zu gehen kann dann geradezu ein Event sein: Man ist vielleicht ein bisschen aufgeregt, stolz und hat das Gefühl, nun endlich erwachsen zu sein. Wer aber mit 16 die Schule verlässt, bekommt davon oft nichts mit. Und wird sich vielleicht später nicht mehr damit auseinandersetzen.
Gibt es einen Trend bei jungen Erwachsenen, was die Wahlbeteiligung angeht?
Die Wahlbeteiligung ist insgesamt in den letzten Jahrzehnten gesunken, und Jüngere gehen generell seltener zur Wahl als Ältere. Bei der Bundestagswahl 2017 sind dann aber wieder mehr Jüngere wählen gegangen als zuvor. Die Wahlbeteiligung der unter 30-Jährigen lag bei fast 70 Prozent, insgesamt liegt sie bei 76 Prozent. Wie in fast allen Altersgruppen unter 60 Jahren gehen auch bei den Jüngeren Frauen etwas häufiger zur Wahl als Männer. Auch bei der Europawahl 2019 war die Wahlbeteiligung unter Jungen so hoch wie nie, vielleicht auch, weil Umweltschutz und der Brexit präsent waren – beides Themen, die besonders junge Menschen und ihre Zukunft........
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