„Das ist ein Krieg nicht nur der Eliten, sondern der Russen“
Wenn auf internationaler Ebene und ohne Miteinbeziehung Kiews über die Aufteilung der Ukraine debattiert wird, welche Assoziationen weckt das bei Ihnen?
Man kann sich natürlich vorstellen, dass ukrainische Intellektuelle und Menschen im Ausland, ukrainische Historiker und Politologen, Kulturschaffende all dies zum Beispiel mit dem Münchner Abkommen von 1938 vergleichen, mit dem Schicksal der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg sprach man von der Achse des Bösen – Berlin, Rom, Tokio – mit Hitler, Mussolini und Japans Kaiser Hirohito, von Nazi-Deutschland, dem faschistischen Italien und dem imperialistischen Japan. Jetzt sprechen wir über Moskau, Teheran, Pjöngjang und Peking. Wir diskutieren über das Gleichgewicht zwischen Demokratie und autoritärer Diktatur – und über die Wahl des derzeitigen US-Präsidenten. Er unterstützt mit Wladimir Putin einen Verbrecher, einen Kriegsverbrecher.
Der Vergleich mit den Vorstufen zum Zweiten Weltkrieg fällt sehr oft. Aber da gibt es doch auch sehr viele Unterschiede.
Ich denke, Putin und sein Regime haben viel mehr Rückhalt in der Gesellschaft. In Deutschland, in Österreich gab es in den späten 1930er-Jahren und während des Zweiten Weltkriegs Widerstand gegen das Nazi-Regime. In Russland gibt es keinen Widerstand. Daher liegt dieser Krieg nicht nur in der Verantwortung eines Diktators, sondern auch in der Verantwortung der russischen Gesellschaft. Sie unterstützen Putin, vielleicht hassen sie Putin, vielleicht haben sie Angst vor Putin – aber sie haben in den letzten zehn Jahren nichts getan. Und was ist mit uns? Tschernihiw, Jahidne, Charkiw, Isyum, Butscha sind heute Symbole eines Massenmordes an ukrainischen Bürgern. Und es gibt Parallelen. Die Tschechoslowakei war 1938 ein demokratisches Land. Nazi-Deutschland hat behauptet, es müsse die deutschsprachige Bevölkerung auf dem Gebiet der Tschechoslowakei schützen. Genau so argumentiert das Putin-Regime heute. Das ist natürlich eine komplette Lüge.
Die Geschichte Nazideutschlands ist die eine Seite. Die andere ist die ukrainisch-russische Geschichte, die reich an Parallelen ist und sich über Jahrhunderte immer wiederholt hat.
Das stalinistische Regime hat die Ukrainer gehasst – die ukrainische Unabhängigkeits- und Nationalbewegung, ukrainische Literatur, ukrainische Kultur. Zugleich hat Stalin die jüdische Kultur gehasst. Anti-Ukrainismus, Antisemitismus und Ukrainophobie sind ein und dieselbe Sache. Ein Beispiel: der Bezirk Izyum (Region Charkiw, Anm.: Nach der Befreiung der Region durch ukrainische Truppen wurden dort riesige Massengräber entdeckt.). In den Jahren 1932/33 beging das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten NKWD dort die massivsten Verbrechen an der Zivilbevölkerung und ließ Millionen Menschen in der gesamten Ukraine gezielt verhungern. Wir kennen das heute als Holodomor. Heute sterben in genau diesen Dörfern ukrainische Bürger durch russischen Beschuss, Raketen und Bomben. Es gibt diesen tiefen Hass auf die ukrainische Kultur, den Putin von Stalin geerbt hat.
Wenn unter diesem Licht jetzt über „Frieden“ diskutiert wird, wie kommt das an bei Ihnen?
Wenn wir die Ukraine jetzt nicht verteidigen, wenn wir ein Abkommen schließen und Teile der Ukraine dem russischen Regime zufallen, wird es eine Pause geben – vielleicht sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Aber die Russische Föderation wird weiterhin Krieg führen. Putin hat seit langem immer die Vergangenheit und die........
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