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„Das Recht kommt oft einen Krieg zu spät“

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28.01.2025

Schätzungen zufolge starben im Zweiten Weltkrieg weltweit zwischen 70 und 85 Millionen Menschen, etwa die Hälfte davon Zivilist:innen – aufgrund von direkten Kriegshandlungen, Verfolgung, Hunger oder Krankheiten. Der größte Zivilisationsbruch bis heute ist die Schoa, der Völkermord an rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden, den das nationalsozialistische Regime beging. Weitere fünf bis sechs Millionen Menschen wurden ermordet, weil sie einer bestimmten Religion angehörten, eine bestimmte Herkunft oder sexuelle Orientierung hatten, Kritik am Regime äußerten oder aufgrund einer Behinderung oder Krankheit ausgegrenzt wurden. Es war ein systematisch durchgeführter Massenmord.

Die wenigen, die die Konzentrationslager überlebten, waren schwer traumatisiert, viele von ihnen unfähig, je wieder einen Beruf auszuüben. Über das, was ihnen angetan worden war, wollten oder konnten nur wenige berichten. In vielen Familien wurde totgeschwiegen, was passiert war. Doch alle – ob sie laut oder leise litten – einte in der Nachkriegszeit eine gemeinsame Erkenntnis: Nie wieder darf solches Leid passieren.

Der globale Schrecken und die Erkenntnis, dass er sich nie mehr wiederholen dürfe, war der Grundstein zur Gründung der Vereinten Nationen. Die neue Weltorganisation sollte stärker und effektiver sein als der Völkerbund (siehe Infos & Quellen), der den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern hatte können. Durch das Inkrafttreten der UN-Charta, dem Gründungsvertrag der Vereinten Nationen, wurde dieser Vorsatz am 24. Oktober 1945 institutionalisiert. „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“, lautet der erste Satz der Einleitung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch deutlich, dass das bestehende Kriegsrecht erhebliche Schwächen aufwies: Es basierte hauptsächlich auf Gewohnheitsrecht (die gängige Praxis bzw. ungeschriebenes Recht) und einigen Abkommen wie den Haager und frühen Genfer Konventionen, war jedoch lückenhaft, schützte Zivilist:innen und Kriegsgefangene nur unzureichend, erlaubte Kriegsmittel wie chemische Waffen und galt nicht für alle Staaten. Aus diesem Grund wurde das humanitäre Völkerrecht entwickelt – eine Reihe von internationalen Verträgen, Konventionen, Protokollen und Gewohnheitsrecht, die die Regeln für bewaffnete Konflikte festlegen. Ein entscheidender Fortschritt dabei war 1949 die Verabschiedung der vier Genfer Konventionen: Sie sollten in zukünftigen Kriegen verwundete und kranke Angehörige von Streitkräften schützen, Kriegsgefangenen mehr Rechte geben sowie die Zivilbevölkerung unter Schutz stellen.

„Das Recht kommt oft einen Krieg zu spät“, sagt Raphael Schäfer, Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, zur WZ. Der Jurist schiebt nach: „Das ist natürlich verkürzt ausgedrückt.“ Ganz allgemein ist das Verhältnis zwischen Krieg und Recht ein zwiespältiges. „Zwar dürfte es laut der UN-Charta keinen Krieg mehr geben, das Völkerrecht reguliert aber trotzdem das schon Verbotene“, erklärt Schäfer. Denn kriegerische Gewalt sei nie gänzlich abzuschaffen.

Auch der Begriff des „humanitären Völkerrechts“ stelle mehr Idealbild als Tatsache dar. „Krieg ist per se inhuman. Der Versuch, ihn zu humanisieren, ist nur begrenzt möglich, weshalb das Recht in seiner Anwendung oft hinter diesem Anspruch zurückbleibt”, resümiert er. Es bleibt meist ein Ausgleich zwischen den oft gegenläufigen Prinzipien von Menschlichkeit und militärischer Notwendigkeit.

Die Vereinten Nationen spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts. Dennoch reagieren sie oft erst im Nachhinein auf Ereignisse – und selbst dann gelingt es nicht immer, diese vollständig zu regulieren.

Während des Zweiten Weltkriegs blieb das damals bestehende Kriegsrecht formal gültig, wurde jedoch in zahlreichen Fällen missachtet. Nichtsdestotrotz war es weiterhin ein rechtlicher und moralischer Orientierungspunkt für die internationale Gemeinschaft: „Kein Staat der Welt räumt von sich aus ein, das Völkerrecht gebrochen zu haben. Selbst die Nazis haben sich auf Selbstverteidigung gegen eine ’polnische Aggression’ berufen und den inszenierten Überfall auf den Sender Gleitwitz angeführt“, sagt Schäfer.

Das zeigt, wie wichtig Narrative und Rechtfertigungen im internationalen Kontext sind: Staaten, die das Völkerrecht verletzen, konstruieren häufig Schutzbehauptungen, um ihre Handlungen zu legitimieren. Auch Russland rechtfertigte beispielsweise seinen Angriff auf die Ukraine mit der Behauptung, diese zu entnazifizieren – eine Behauptung, die jeglicher Grundlage entbehrt.

„Der Völkerrechtler Thomas Franck sprach davon, dass gewisse Argumente im Völkerrecht nicht einmal den Laugh Test bestehen würden. Dieser besagt, dass ein Argument nur dann legitim ist, wenn die andere Seite nicht darüber lacht.“ Doch bei solchen Argumenten, meint Schäfer, sei für jede vernünftige Person offensichtlich, dass sie bloß Legitimierung suggerieren sollen und Heuchelei darstellen. Ideologie als Gegner des geschaffenen Rechts.

Die Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs hatten die europäischen Kolonialmächte in ihren Grundfesten geschwächt und entscheidend zum Aufstieg antikolonialer Befreiungsbewegungen beigetragen. Die in den 1950er- und 1960er-Jahren neu unabhängigen Staaten in Afrika und Asien kritisierten die Doppelmoral der ehemaligen Kolonialmächte, die sich zum humanitären Völkerrecht bekannten, aber gleichzeitig Befreiungsbewegungen brutal unterdrückten, etwa in Algerien oder Kenia. Dieser Widerspruch offenbarte die Grenzen des bestehenden humanitären Völkerrechts, das bis dahin die Realitäten von antikolonialen Kämpfen weitgehend ignoriert hatte.

Der ehemalige Leiter des Völkerrechtsbüros des Außenministeriums, Helmut Tichy, erklärt: „Die Aufarbeitung der Kolonialkriege und die Einbeziehung der Perspektiven der neuen Länder waren essenziell, um das humanitäre Völkerrecht universeller zu gestalten.“ Das Narrativ der kolonialen Unterdrückung musste zur Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs hinzukommen. „Trotz des erheblichen Widerstands der Kolonialmächte gelang es den neu unabhängigen Staaten, durch ihre große Anzahl und ihre Geschlossenheit für sie wichtige Änderungen des humanitären........

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