Jugend für Pflege geopfert: Kann eine Anstellung helfen?
„1, 2, 3.“ Oliver Ortauf zählt laut mit. Seine Mutter liegt vor ihm im Pflegebett, sie wimmert leise. „Ich kann nicht“, sagt sie. „Doch. Du kannst“, entgegnet ihr Sohn, mit ruhiger Stimme. Nochmal: „1, 2, 3.“ Dann dreht der 31-Jährige seine Mutter vorsichtig vom Rücken auf die linke Seite. Mehrmals am Tag macht er das, damit sich die 62-Jährige nicht wundliegt. Das Pflegebett nimmt viel Platz im Wohnzimmer der Grazer Wohnung ein, die Mutter kann von dort aus fernsehen. An diesem Freitagvormittag läuft „The Mentalist“. Am Kasten gegenüber stapeln sich Packungen mit Windeln.
Seit er 16 Jahre alt ist, pflegt Oliver Ortauf seine Mutter. Sie hat Multiple Sklerose und leichte Demenz, Pflegestufe 5. Kurz nach der Geburt von Olivers kleiner Schwester fing alles an, die Mutter wurde krank. „Der Papa ist abgehauen, als ich in der Hauptschule war“, erinnert sich Oliver. Zunächst kümmert sich die Oma viel, doch sie stirbt, als Oliver 17 ist. Der Jugendliche fasst einen Entschluss: „Ich habe mir geschworen, dass ich das, was die Oma gemacht hat, weiterführe.“ Seiner Mutter geht es immer schlechter. „Sie ist vom Stock zum Rollator, vom Rollator zum Rollstuhl und vom Rollstuhl jetzt mittlerweile ins Bett gewechselt.“
Fortgehen, Grenzen austesten, Freunde treffen – all das ist nicht für Oliver. „Ich hatte keine Jugend.“ Oliver vernachlässigt sich selbst. Er hat einen Bandscheibenvorfall, später dann einen Schlaganfall. Seine Zähne gehen kaputt, er hat Schmerzen. Sein Selbstbewusstsein leidet. Er isoliert sich immer mehr. In dieser Zeit, in der er „permanent daheim ist“, entdeckt er Anime-Serien für sich, er flüchtet sich in die Fantasiewelten. Immer wieder hat er den Gedanken: „Hey, ich bin jung, warum kann ich nicht das machen, was die anderen machen?“ Olivers Schwestern – eine jüngere und eine ältere – helfen mit, aber den Großteil übernimmt Oliver. Er bringt sich teils selbst bei, wie er auf seine Mama aufpassen kann, das Rote Kreuz unterstützt die Familie. Eine Ausbildung neben der Pflege machen? Arbeiten gehen? An die Zukunft denken? Keine Chance. Oliver lebt von Sozialhilfe, häuft Schulden an.
Heute ist Oliver Ortauf 31 Jahre alt. An diesem Freitag am Pflegebett........
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