In der Sekte: Der unsichtbare Weg in die Abhängigkeit
Hinweis: In diesem Artikel geht es auch um Suizid und psychische Erkrankungen.
Wenn du Hilfe brauchst, findest du Adressen und Telefonnummern am Ende des Textes.
„Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, das hat mich sehr getroffen“, erzählt Peter Reischer der WZ. Der heutige Pensionist erinnert sich an die Zeit als junger Architekturstudent. Seine Sehnsucht: eine heile soziale Welt. Und die meinte er in einer Gruppe von Student:innen gefunden zu haben, die sich um einen charismatischen Professor an der Uni geschart hatte. Kunstprojekte, Architekturausstellungen, Projekte im öffentlichen Raum – das alles faszinierte Peter. Der Mann, den er heute Guru nennt, vermittelte ihm, dass er sich für ihn interessierte und sich um ihn kümmerte. Aus einer Ateliergemeinschaft entstand schließlich eine intensive Gemeinschaft mit sektenähnlichem Charakter. Die Heilsbotschaft: Hier gibt es keine Probleme wie bei dir zuhause. Wir leben zusammen, finanzieren alles gemeinsam, wohnen zusammen und machen gemeinsam schöne Projekte. Eine heile Welt, wie Peter sie gesucht hatte. „Nicht sehen konnte oder wollte ich damals, dass das Ganze nur dem Zweck der Selbstverherrlichung und Selbstbereicherung des Gurus und seiner Frau gedient hat“, sagt Peter heute. „Denn wir mussten 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr arbeiten.“ Von seiner Familie und seinen Eltern entfremdet Peter sich immer mehr, bis zum kompletten Kontaktabbruch. „Der Guru hat das sehr geschickt verstanden, aus kleinen Schwierigkeiten große Dramen zu machen.“
Supernette Leute, extreme Hilfsbereitschaft, tolle Versprechungen – macht das aus einer Gruppe oder Gemeinschaft gleich eine Sekte? Nein, sagt Martin Felinger. Der Psychologe ist Geschäftsführer der Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren (GSK) und berät seit 25 Jahren Aussteiger:innen und Angehörige. Nicht nur beim Dating, auch bei Sekten gibt es das Phänomen des Love Bombings. Die Alarmglocken sollten also angehen, wenn etwas oder jemand übernatürlich positiv erscheint und dich mit Zuneigung überschüttet.
„Der Sektenbegriff ist nicht eindeutig definiert, es gibt aber gewissen Kriterien, die Gruppen ausmachen, die für die persönliche Entwicklung und für die psychische Gesundheit gefährlich werden können“, sagt Felinger zur WZ.
Ein eindeutiges Schwarz-Weiß-Denken. Es gibt das absolut Richtige. Und alles, was nicht hineinfällt, ist automatisch komplett falsch. Etwas dazwischen, ein Graubereich, ist nicht vorgesehen. Darf ich eine andere Meinung haben? Wie weit geht man auf meine Argumente ein?
Es gibt eine Heilslehre, also eine Lehre, nach der ein Idealziel erreicht wird, das immer funktioniert. Und wenn es nicht funktioniert, dann liegt der Fehler bei einem selbst. Nie an der Lehre, die ist nicht angreifbar. Was kann die Gruppe, die Methode tatsächlich bewirken? Liegt das weit über dem, was wir im wissenschaftlichen Bereich vermuten, wie etwa eine Heilung für alle Krankheiten?
Es gibt ein Elitebewusstsein. Die Personen, die dazugehören, verstehen sich als besser und auserwählt. Sie haben Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, die sie exklusiv machen.
In vielen Gruppierungen gibt es eine zentrale Person, ein sogenannter Guru, dem oder der oftmals besondere Fähigkeiten zugeschrieben werden. Dass sie etwa mit einer anderen Welt kommunizieren kann oder dass sie Dinge weiß, die andere nicht wissen können.........
© Wiener Zeitung
