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Das Internats-Syndrom: Mein Leben, ein verstecktes Trauma

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11.01.2025

Die Sonne scheint durch das Herbstlaub. Burschen spielen Fußball. Mädchen gehen Arm in Arm spazieren. Christian Wabl betritt nach 65 Jahren wieder seine alte Schule, das Internat Liebenau in Graz. „Schulfremden Personen ist der Zutritt nicht gestattet“ steht auf einem Schild am Eingang. „Früher saß hier der Portier in einem kleinen Häuschen und notierte, wer wann das Areal verlässt und wiederkommt“, sagt Christian Wabl zur WZ. Heute steht hier nur mehr ein Busch. Obwohl er in Graz wohnt, hat der 76-Jährige die Schule nie wieder besucht. Die K.-u.-k.- Gebäude der damaligen elitären Kadettenlehranstalt haben sich kaum verändert. Auch sonst sieht vieles aus wie damals: das Lehrer:innenhaus, der Speisesaal, die Zimmer, das Schwimmbad. Heute gibt es aber auch Mädchen an der Schule.

Christian war nur drei Monate an der Schule. „Das war der Schock meines Lebens“, erinnert sich der Steirer. „Ich war vollkommen verloren.“ Damals, in den späten 1950ern, galt er als einer der Auserwählten. „Ich war einer von vier Volksschülern, der auf ein Gymnasium durfte. Und ich war der Einzige, der auf ein Elite-Internat gehen sollte.“ Damals war er zehn Jahre alt. „Ich bin nicht gefragt worden, meine beiden älteren Brüder sind in das Internat gekommen, also war klar, ich auch“, erzählt der pensionierte Kunstlehrer. „Ich habe mir überhaupt nichts erwartet und hatte zunächst keine Gefühle dazu. Aber es ist schrecklich geworden, weil ich den Boden unter den Füßen verloren habe.“ Christian fand zwei Freunde, mit denen er sich gut verstand. Einer ging nach zwei Wochen nach Hause. „Wir haben eine Trauergemeinde gebildet und uns im Duschraum selbst beweint − die drei Unglücksraben −, aber nach zwei Monaten war ich der Einzige, der übriggeblieben ist.“

Drei Monate scheinen kurz, und doch denkt Christian immer wieder an die Zeit und wie sich seither gewisse Muster durch sein Leben gezogen haben. „Es war eine Atmosphäre wie in einer Kaserne“, erzählt er. „Jede Abweichung, Ängstlichkeit oder jedes Unvermögen wurde von den Mitschülern und den Lehrern als Schwäche gesehen. Das ist das Erbe einer Eliteschule.“

Christian nennt das Internat heute ein Gefängnis. „Du musst die Emotionen abspalten, damit du überlebst. Was mich gerettet hat, ist die Kunst.“ Er habe angefangen zu fantasieren und sich Bilder auszumalen. „Ich bin geflüchtet.“ Das Zeichnen und Malen sind ihm bis heute geblieben. Der ehemalige Lehrer betreibt eine Galerie in der Grazer Innenstadt.

Christians Beschreibung nennt sich im Fachjargon „Internats-Syndrom“. Die Psychotherapeutin Joy Schavarien aus Großbritannien bemerkte in den 2000er-Jahren erstmals bei ehemaligen Internats-Schüler:innen ähnliche Symptome und Muster. Laut ihr entsteht das Entwicklungstrauma durch vier Faktoren: Verlassenwerden, immer wieder Abschied und tiefe Trauer, das Gefühl von Gefangenschaft und eine Abspaltung der Emotionen. Die folgenden Symptome, die auch erst viel später im Leben auffallen und zu Problemen führen können, sind hohe Leistungsansprüche an sich und andere, übersteigerter Perfektionismus, emotional nicht mitfühlend sein können, Drang nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, Probleme mit Nähe. Das führe bei den Betroffenen nicht selten zu Burnout und Depression.

Lill Bretz kennt das Syndrom, denn sie arbeitet als Trauma-sensibler Coach mit Klient:innen, die Internats-Vergangenheit haben. „Das Trauma ist sehr tabubehaftet, da es sich um privilegierte Kinder handelt, die eigentlich froh und stolz sein sollten, dass sie eine besonders gute Bildung erhalten haben“, sagt sie zur WZ. Scham- und Schuldgefühle sind die Folge. „Die Trennung und der Verlust in jungen Jahren führen oft zu Bindungsstörungen in späteren Beziehungen“, sagt Bretz. „Wir sind hochsoziale Wesen. Wenn die Verbindung........

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