IS-Camps in Syrien: Die Brutstätten der Radikalisierung
„Viele der Insass:innen in den Lagern sind immer noch hochradikalisiert. Erst kürzlich hatten wir einen Fall, bei dem ein 13-Jähriger mehrere der erwachsenen Frauen geschwängert hat. Damit eine neue IS-Generation entsteht. Diese Kinder sind sehr indoktriniert“, erzählt mir Jihan Hamza, Mitglied des Syrischen Frauenrates, als wir in ihrem Büro in der Nord-Ost-Syrischen Stadt Qamishli Tee trinken. „Diese Radikalisierung in den Camps bei uns wird auch ein Problem für euch in Europa werden“, sagt Jihan ernst.
Jihan und ich sprechen über die Attentate in Villach, Mannheim, Solingen und München. Europa erlebt gerade eine neue Welle der Radikalisierung. Viele der Täter bekennen sich zum sogenannten „Islamischen Staat“. Zwar gilt der IS militärisch in Syrien und im Irak als besiegt, doch seine Ideologie ist nach wie vor lebendig. Nicht nur über soziale Netzwerke, in denen sich junge Menschen radikalisieren – sondern vor allem hier, in den Lagern im kurdischen Gebiet Syriens.
Ich bin an den Ort gereist, an dem die Ideologie einst in den damaligen IS-Hochburgen groß geworden ist: Nordostsyrien, die kurdisch dominierte Region Rojava, wo heute noch tausende ehemalige IS-Kämpfer und -Anhänger:innen in von kurdischen Milizen bewachten Lagern inhaftiert sind. In den Lagern sind rund 50.000 Menschen untergebracht, darunter circa 6.000 Frauen und Männer aus Europa, die einst nach Syrien gereist sind, um sich dem IS anzuschließen. Die meisten von ihnen waren damals noch sehr jung – gelockt durch geschickte Propaganda-Videos reisten sie nach Syrien, um dort im damaligen Kalifat zu leben. 2019, als die letzten IS-Hochburgen gefallen sind, wurden vor allem Frauen und Kinder evakuiert und in die Lager gebracht.
Nicht nur die Situation in den Lagern schürt die Unsicherheit in der Region: Seit dem Sturz von Baschar al-Assad im Dezember 2024 steckt Syrien in einer Phase großer Umbrüche. Das Miliz-Bündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat eine Übergangsregierung gebildet, die von vielen Ländern nicht anerkannt wird. In den letzten Wochen kam es zu Eskalationen der Gewalt, besonders gegen die alawitische Minderheit, wobei Hunderte Zivilist:innen ums Leben kamen. Die Lage bleibt extrem angespannt, es kommt weiterhin zu Kämpfen und Menschenrechtsverletzungen. Die Türkei erhöht den Druck auf die kurdischen Gebiete, was zu weiteren Spannungen führt.
Jihan Hamza leistet Deradikalisierungsarbeit in den Lagern Al Hol und Roj. Sie leitet dort Workshops mit den Insass:innen und ihren Kindern und bietet psychosoziale Beratung an: Gemeinsam erarbeiten sie kritisches Denken gegenüber extremistischer IS-Ideologie.
Jihans Anwesenheit dort wird nicht von allen dort begrüßt: Ihr Zelt wurde von radikalen Insassinnen niedergebrannt, ihre Hunde getötet – einer geschlachtet, der andere lebendig verbrannt. Jihan zeigt mir Fotos und Protokolle der Vorfälle.
Viele der Frauen haben Kinder mit IS-Kämpfern bekommen – die Kinder sind in den Camps aufgewachsen und kennen die Außenwelt nicht. Sie wachsen in einem eigenen Mikrokosmos auf, befeuert durch ihre teilweise immer noch radikalisierten Mütter: Einige von ihnen haben sich von der Ideologie abgewandt, andere wiederum hoffen auf ein erneutes Erstarken des IS und ein neues........
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