Der Sommer, in dem ich Wessi werden wollte
Wenn wir über die deutsche Einheit reden, hangeln wir uns an Daten wie dem 9. November 1989 oder dem 3. Oktober 1990 entlang. Dabei wird der Tag, der den Alltag der Ostdeutschen mindestens ebenso veränderte, oft nur flüchtig erwähnt. Doch so wie 1948 die Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen die deutsche Teilung vorwegnahm, so vollzog die Währungs- und Wirtschaftsunion am 1. Juli 1990 de facto bereits die Wiedervereinigung.
Nahezu jeder, der in der DDR lebte, verbindet mindestens eine Geschichte mit dieser Zäsur. Meine Geschichte besitzt sogar ein Prequel. Es beginnt zwei Jahre zuvor, im Sommer 1988.
Ich war 16 und reiste zum ersten Mal mit meiner Familie in ein Ausland. Wir fuhren mit dem Nachtzug in die Slowakei, die damals zur ČSSR gehörte, der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Von Poprad ging es in die Hohe Tatra, zu dem Flecken Pod Lesom, wo wir in der Wohnung einer Bekannten eines Bekannten einer Bekannten hausten.
Das Deputat an tschechoslowakischen Kronen, deren Umtausch uns die DDR-Obrigkeit für einen zweiwöchigen Aufenthalt gewährt hatte, ging zum größten Teil für die Unterkunft drauf, weshalb wir uns jenseits der Grundnahrungsmittel mit Konserven aus dem Koffer behalfen.
Ich erinnere mich noch gut an meine Hochgebirgspremiere auf dem vernebelten Gipfel des Rysi. Ich stand mit einem Fuß in der ČSSR und mit dem anderen in der Volksrepublik Polen, und ich fand mich richtig internationalistisch.
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Unten jedoch, im Tal, zwischen den anderen Urlaubern, fühlte ich mich zweit- oder sogar drittklassig. Die führende Klasse bestand aus © stern
