„Ein Bürger, ein Demokrat, ein Humanist, der für uns aufbegehrt“
Es ist Nacht, »Mitternacht« heißt es über der Szene im 5. Akt des Zweiten Teils von Goethes »Faust«. Und da treten sie auf, die vier »grauen Weiber«, wie Goethe sie nennt, eine nach der anderen, und stellen sich vor: »Ich heiße der Mangel«, »Ich heiße die Schuld«, »ich heiße die Sorge«, »ich heiße die Not«.
Diese vier - Mangel, Schuld, Sorge, Not -, sie stehen vor der verschlossenen Tür, hinter der Faust bangt, was ihm geschieht. Er will sie von sich halten. Er hört sie murmeln, versteht nicht alles, und er fürchtet sich. Vor dem Ungewissen, vor dem Tod, vor der Finsternis.
Es ist Nacht
Michel Friedman kennt sie alle vier, die grauen Weiber, von Anbeginn an. Sie waren da bevor er noch da war. Sie ließen sich nicht draußen vor der Tür halten, sie waren immer schon drinnen, innen, in der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft, den eigenen Eltern, den Überlebenden der Schoa, dem Innenraum des Ich.
Vielleicht in anderer Reihung, aber alle vier durchzogen und durchziehen Michel Friedmans Leben und Werk, und wer ihn ehrt, und das wurde ja Zeit, liebe Stadt Frankfurt, wer diesen Bürger der Stadt endlich ehrt, der sollte ausbuchstabieren, was das bedeutet, wenn Schuld, Not, Mangel und Sorge das Eigene durchziehen. Denn nur wer sich ausmalt, was das heißt, kann anerkennen, welche Anstrengung es kostet, welchen Mut, sich dem zerstörerischen Kraftfeld dieser vier zu widersetzen, sie umzuwandeln in Schöpferisches.
Es ist Nacht
Schuld und Not
»Ich bin auf dem Friedhof geboren«, so beginnt Michel Friedmans Poem (was für ein Genre ist das?), »Fremd«:
»Ich bin auf dem Friedhof geboren«
»Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.«
(Aus: »Fremd«, S. 9)
Da ist schon alles drin.
»Der Schmerz, der keinen Anfang kennt, der kein Ende kennt,« das, diese Zeitlosigkeit, ist, was die amerikanische Psychologin Judith Herman als Trauma definiert: eine Erfahrung zu machen, die sich nicht einreihen, nicht begreifen, nicht aushalten lässt, die einen aus der Zeit und aus der gemeinsamen sozialen Welt mit anderen fallen lässt, die nicht mehr linear fortschreitet, sondern angehalten und eingefroren ist.
Michel Friedman ist in die Zeitlosigkeit des Traumas seiner Eltern hineingeboren und sie hat ihn eingeschlossen in einen unerfüllbaren Auftrag, die Schuld und die Angst der Eltern abzutragen. »Trauergefängnis« nennt er das.
»Wie bringe ich Euch zum lachen?
Wie bringe ich Euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.«
(aus: »Fremd«, S. 10)
Und so doppelt sich das Gefühl der Schuld derer, die an nichts schuld sind, die durch nichts, absolut gar nichts, beigetragen haben zu dieser Not, sondern denen sie angetan wurde, von unser-einem. Die empfundene Schuld überlebt zu haben und die Schuld, die Traurigkeit der Überlebenden nicht mindern zu können. Das ist ein Erbe, das sich nicht ausschlagen lässt, das sich nicht außen vor der Tür halten lässt.
Wir haben es nicht verdient, dass einer wie Michel Friedman es auf sich nimmt, es uns zu erklären, in seinen Büchern, seinen Reden, seinen Gesprächen, seinen Interventionen, im Fernsehen, in Theatern, in Parlamenten, auf Demonstrationen, auf der Straße, in leisen, kleinen Formaten oder in großen, wir haben es nicht verdient, dass er Worte sucht und findet und sie aneinanderreiht, wie Perlen auf eine Kette aufzieht, eins nach dem anderen, wissend, dass es nicht genügen wird, um die Not abzutragen, aber auch........
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