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Die größte Krise des Judentums, seit es Zionismus gibt

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13.12.2025


Die Überschrift scheint zunächst absurd, ja grotesk. Israel hat gerade gemäß der westlichen Wahrnehmung alle Gegner der sogenannten „Achse des Widerstandes“ lahmgelegt. Zwei Millionen Palästinenser sind ohne Obdach und hausen in Zelten. Gaza ist ein Trümmerfeld, wie es die Welt seit dem zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Israel tötet weiterhin jeden Tag einige Dutzend Palästinenser, die in westlichen Augen fast alle Terroristen sind. Ein Wiederaufbau ist eine Utopie und in wenigen Jahren völlig ausgeschlossen. Der Jemen schweigt. Der Libanon ist paralysiert und Israel kann jeden Tag weitere Libanesen ungestört ermorden. Die irakischen Widerstandsgruppen haben sich offenbar versteckt. Die islamische Republik Iran hat unzählige Opfer auf den höchsten Führungsebenen geben müssen, und als es kritisch für Israel wurde, haben die USA eingegriffen, was sie immer tun müssen, denn deren Staatsräson ist noch heftiger als die Deutschlands. USA und Deutschland liefern weiterhin ungehindert Waffen an Israel. Obwohl die ganze Welt weiß, dass hier ein beispielloser Völkermord unserer Zeit stattgefunden hat, wird Israel auf allen Ebenen gefördert. Wo soll da eine Krise des Judentums existieren?



Aber genau in obiger Schilderung steckt die größte Krise des Judentums seit dem Zweiten Weltkrieg und wahrscheinlich seit es Zionismus gibt. Der Holocaust war eine große Katastrophe für das Judentum! Aber er war nicht existenzbedrohend, denn es gab hinreichend viele Juden in Palästina, USA, Großbritannien und deren Kolonien, die nie gefährdet waren. Jetzt aber ist die Bedrohung nicht an irgendwelche Kriegs- oder Friedensgebiete gekoppelt. Es ist auch keine physische Bedrohung wie in den Konzentrationslagern. Es ist vielmehr der Zusammenbruch eines Wertesystems, das Israel als „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ ansieht, wie es Theodor Herzl formulierte.

Im hebräischen Original des Alten Testaments steht im Abschnitt Sprichwörter 16,18 sinngemäß: „Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmut kommt vor dem Fall.“ Entsprechend gehört Stolz zu den Todsünden im Christentum. Aber sowohl Christen als auch vor allem Juden scheinen in ihren Büchern immer weniger zu lesen. Denn sonst wüssten sie, in welch einer Weltlage sie sich befinden.

Szenenwechsel ins Jahr 1990. Am 18. November hat damals der heutige Ministerpräsident Israels den bekannten hohen jüdischen Geistlichen, den Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson getroffen. Über die Begegnung gibt es sehr viele Legenden. Die wohl berühmteste Legende besagt, dass der Rebbe in einem privaten Gespräch zu Netanjahu gesagt habe, er werde „Israels letzter Premierminister sein, der das Zepter an den Messias weitergibt“ [1]. Bei dem aktuell in jeglicher Hinsicht völlig entfesseltem Verhalten Netanjahus ist es durchaus vorstellbar, dass ein gewisser Wahrheitsgehalt in jener Legende steckt. Denn warum sonst sollte ein Ministerpräsident sein ganzes Volk ins Unheil stürzen, wenn er doch durch einen einfachen Friedensschluss mit den Palästinensern und der vom Westen so präferierten Zwei-Staatenlösung Milliarden und Abermilliarden an Geldern von der ganzen Westlichen Welt einkassieren könnte, Frieden für Juden in der ganzen Welt bewirken würde und das Image korrigieren würde, das weltweit die Juden in eine Sackgasse gerückt hat, aus dem ein Ausweg ansonsten unmöglich scheint.

So lange Zionismus, Judentum und Israel drei Begriffe waren, die zwar über gewissen Schnittmengen verfügten, aber auch viel Trennendes beinhalteten, so lange konnte man die Schandtaten des Staates Israel nur auf dessen Regierung schieben. Nicht jeder Zionist ist Jude, nicht jeder Jude ist Zionist. Judentum ist mehrere Tausend Jahre alt, Zionismus gerade einmal ein Jahrhundert. Israel existiert erst seit 1948 und nicht jeder Israeli ist Jude oder........

© Neue Rheinische Zeitung