Polnisch, deutsch, staatenlos?Die Flucht meiner Oma im Krieg
„Wir schreiben den 1. September 1939”, steht in den Memoiren meiner polnischen Oma Małgorzata. Der Zweite Weltkrieg begann. „Wir hatten ein sehr friedvolles Leben. Ich war damals neun Jahre alt, das ganze Rundherum berührte mich nicht”, schrieb sie. „Bis ich einmal im Hof war und zuschaute, wie die Flugzeuge sich gegenseitig abschossen. Da wurde mir bewusst: Da passiert etwas Schreckliches.”
Sie schrieb weiter: „Die ersten Bombenangriffe trafen die Stadt und das tägliche Leben wurde immer schwieriger: Lebensmittel wurden knapp, von da an stand auf dem Essensplan: Reis aus dem Vorratsschrank mit Marmelade aus dem letzten Sommer. Zur Abwechslung gab es auch einmal Pferdefleisch, denn im Nachbarhof starb gerade ein Pferd im Bombenhagel.”
Małgorzata hatte helles Haar und grau-blaue Augen, entsprach laut Nazis also dem Bild des Ariertums. Die Absicht von Reichsführer SS Heinrich Himmler, der zu dieser Zeit Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums war, war klar: „Germanisches Blut holen, rauben und stehlen, wo er nur konnte.” Aber noch konnte meine Oma kein Deutsch.
„Es dauerte drei Wochen, Polen war nun von den Deutschen besetzt. Und mit einem Schlag waren wir Volksdeutsche. Das heißt: Wir Kinder mussten über Nacht in eine deutsche Schule gehen, ohne der Sprache mächtig zu sein.” Die Geschwister taten sich alle schwer. Davor konnten sie einen Satz auf Deutsch: Ich bin Peter, du bist Paul. Ich bin fleißig, du bist faul. Ihr Vater war nicht gewillt, mit den Kindern deutsch zu sprechen. Schließlich sei das die Aufgabe der Schule, meinte er.
Viel Kopf für die Schule blieb zu dieser Zeit nicht. Er war gefüllt mit neuen Eindrücken: „Wir waren in einem Sommerlager bei Warschau. Dorthin gelangte man nur, wenn man durchs Ghetto fuhr. Zu- und Aussteigen war im Ghetto verboten, die Scheiben der Straßenbahn waren mit Folie abgeklebt, die aber schon von anderen heruntergekratzt wurde. Ein Blick hinaus, ich traute meinen Augen nicht: Ein Haus brannte in den unteren Stöcken. Die Leute sprangen in den Tod. Es war einfach grauenvoll.”
Eindrücke wie der Blick auf das Warschauer Ghetto, das bis heute als das größte Sammellager für Jüd:innen gilt, ließen meine Oma, besonders in späteren Jahren, nie mehr los. Immer wieder sagte sie: „So viele tote Menschen, so viel Leid.“
Eine deutsche Schule reichte Himmler nicht: Sein Programm sah vor, Kinder aus besetzten Gebieten nach Deutschland zu schicken, um dort die Sprache zu lernen. Eindeutschen wurde das genannt. So wie meiner Großmutter ging es Tausenden Kindern, aus vor allem Tschechien und Polen. Sie und ihre Schwester Danuta wurden in einem Güterzug ohne Essen nach Crimmitschau bei Zwickau gebracht. Dort lebten sie zusammen mit anderen Kindern in einem Heim, unter primitiven Bedingungen. Die Wochenenden verbrachten sie bei überzeugten Nazi-Familien.
„Der Alltag war von strengen Regeln geprägt: Wir durften nicht polnisch sprechen, mussten viel Sport machen und wenig essen, wir hatten Tag und Nacht Hunger. Ab und zu habe ich Strafe bekommen, weil ich mit meiner Schwester polnisch gesprochen habe.”, steht in Omas Buch.
Die Schwestern wollten nach Hause und schrieben Briefe an ihre Eltern. Diese wurden zensiert. „Wir wunderten uns: Wieso antworten sie uns nicht? Die Antwort war: Sie erhielten die Briefe nicht.” Heimlich schlichen sie sich auf die Post, um die Briefe selbst aufzugeben. Diese Briefe erreichten den Vater und er schaffte es irgendwie, meine Oma wusste nicht wie, die Mädchen und deren Bruder aus den Heimen zu holen.
Nun war die Familie wieder vereint. Es war 1944, Grete war 14 Jahre alt. Polen stand nun vor neuen Kämpfen. Die russische Armee rückte näher, um das Land zu befreien. Meine Urgroßeltern Alois und Stanislawa begrüßten die Befreiung, hatten jedoch Bedenken: Durch ihre Zwangseindeutschung könnten die russischen Soldaten sie mit Nazi-Deutschen verwechseln. Mein Uropa Alois entschloss sich, die Kinder nach Wien zu bringen. In Wien lebte seine Schwester, dort könnten sie Unterschlupf finden. Meine Uroma........
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