menu_open Columnists
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close

Wisst ihr noch oder verblödet ihr schon?

7 1
01.02.2025

Migrant:innen verspeisen Hunde und Katzen zum Frühstück. Die verantwortlichen Gewalttäter:innen für den Sturm auf das Kapitol mit fünf Toten und hunderten Verletzten sind keine Kriminellen, sondern patriotische US-Bürger:innen. Den Klimawandel gibt es nicht. Die Waldbrände in Kalifornien lassen sich nur darum nicht löschen, weil das Wasser von Umweltschützer:innen für bedrohte Fischarten verwendet wird. Das Pferde-Entwurmungsmittel Ivermectin ist eine wirksame Medizin gegen Corona. Ebenso wie Vitamin D. Forschung zu Impfungen ist kategorisch abzulehnen, weil sie nichts bringt und nur Zwänge auslöst. Selbst die Wirkung des Polio-Vakzins ist nicht nachgewiesen.

All diese Meldungen sind falsch. Angesichts dieser geballten Fake News, die uns von Bildschirm, Radio oder aus sozialen Medien entgegenblecken, fragen sich viele Menschen einigermaßen fassungslos, wie derartiger Schwachsinn entsteht und auch noch seinen Weg in die Öffentlichkeit findet. Prominente Persönlichkeiten stellen die unglaublichsten Behauptungen auf, obwohl eigentlich schon mit ein bisschen Nachdenken klar wäre, dass sie nicht stimmen können. Wie ist es möglich, dass derartig viel Unwissen und Falschinformation unwidersprochen über diverseste Kanäle ausgespielt werden kann?

Diese Frage versucht eine junge Wissenschaftsdisziplin zu beantworten. Die Agnotologie, die Lehre vom Nichtwissen, hat sich zum Ziel gesetzt, die Mechanismen zu erforschen, die solch haarsträubenden Unsinn entstehen und für manche glaubwürdig erscheinen lassen. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und steht für „ohne Wissen“ oder „ohne Erkenntnis“. Die Forschungsrichtung untersucht die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen, also wie Unwissen durch Manipulation, irreführende, falsche oder unterdrückte Informationen, Zensur oder andere Formen der Selektivität geschaffen oder gesichert werden kann.

Im Wesentlichen unterscheiden die Forschenden drei Faktoren, die den gegenwärtigen Wildwuchs an Fake News ermöglichen. Da ist zunächst einmal der unterschiedliche Zugang. „Wissen ist nicht etwas, das alle Menschen zu gleichen Bedingungen und in gleichem Maße haben“, erklärt die Philosophin Sonja Riegler, die sich in ihrer Arbeit dem Nichtwissen und den damit verbundenen politischen Fragen zuwendet, im Gespräch mit der WZ. Wissen hänge grundsätzlich davon ab, welche Zugänge wir haben. Die Startbedingungen sind abhängig von Geburtsort, Familie und Schulbildung. Mit unserem Werdegang, unseren Erfahrungen und nicht zuletzt dem Grad der Neugier entwickeln und prägen wir unser Wissen und bauen einen Wissensschatz auf. Auch das Zeit- und Geldbudget spielt eine Rolle. „Sich mit Themen zu befassen und Informationen zu prüfen, erfordert Zeit und kann kostspielig sein“, sagt Riegler zur WZ: „Wissen hat nicht nur mit der Frage zu tun, ob uns Bildung vererbt wurde oder nicht, sondern auch mit unserer Lebensrealität.“

Das bringt uns zu Faktor zwei: Denn aus dieser Lebensrealität und den damit verbundenen Verantwortungen, Zwängen, Interessen und Wünschen heraus wählen wir Gruppen, denen wir angehören wollen, und Menschen, mit denen wir uns umgeben. „Was wir wissen, hat immer mit Positioniertheit in der Gesellschaft, sozialer Identität und Gruppenzugehörigkeit zu tun“, betont Riegler.

Die Digitalisierung hat diese Gruppen zahlreicher und diverser gemacht, aber zugleich auch voneinander abgeschottet. Denn Social Media bieten nur Zugänge zu Informationen, die wir uns selbst aussuchen. Mit unserer Themenwahl schließen wir zwangsläufig viele Themen aus. Was wir nicht wählen, davon erfahren wir nichts. Zugleich sind Gruppen heute reaktiver, als sie es noch zu analogen Zeiten waren. Man ist aufgefordert, sich zu äußern, sich zu zeigen, und in dieser schnellen Reaktionsdynamik können sich ungeprüfte Behauptungs- und Beschimpfungsdynamiken zu Lawinen der Falschinformation formen, die den Geist mit polterndem Unwissen zuschütten.

Was gestern noch wissenschaftlicher Konsens war, wird heute fast schon destruktiv hinterfragt. Impfungen sind einer der größten Erfolge der Menschheitsgeschichte − und dennoch werden sie zerpflückt. Niemand hat jemals beobachtet, wie eine Migrant:innenfamilie eine Katze gegrillt hat − und dennoch konnte US-Präsident Donald Trump ein Bild davon ins Bewusstsein zahlreicher Amerikaner:innen setzen. Verblöden wir im Informationszeitalter?

„Die Menschen sind nicht dümmer als früher. Aber sie sind rechthaberischer“, sagt der britische Philosoph Tim Crane zur WZ. „Was wir nicht wissen, darüber wollen wir nicht mehr........

© Wiener Zeitung