„Hitler lebt!“: Die Welt der Jugendlichen 1945
Für meinen damals erst vierjährigen Vater begann der Frieden mit dem größten Verlust. „Meine Mutter ging mit einem Stück Brot in der Rocktasche fort und kam nicht mehr nach Hause“, sagt er.
Zu Kriegsende waren meine Oma, meine Uroma und mein Vater vor den russischen Besatzungstruppen quer durch das Weinviertel und das umkämpfte Wien nach Hause nach Guntramsdorf geflohen. Wie die WZ berichtete, musste meine Großmutter nach Kriegsende am 8. Mai 1945 als NSDAP-Mitglied der Kategorie „Illegale“ (siehe Infos und Quellen) in der russischen Zone Zwangsarbeit verrichten, während mein Opa, ebenfalls NSDAP-Mitglied, „abkassiert“ worden war. So nannte man es damals, wenn jemand auf offener Straße von Zivilisten in Begleitung eines sowjetischen Soldaten aufgefordert wurde, „mitzukommen“. Mein Vater Werner und sein Bruder Heinz waren also plötzlich elternlos geworden, und der damals zwölfjährige Heinz musste doppelt zittern: Er war bis zuletzt Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Traiskirchen gewesen.
Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten galten als Aufzuchtstätten des Nazi-Nachwuchses. Sie wurden Napola genannt, ihre Schüler umgangssprachlich Napolitaner (Infos und Quellen). Nach Kriegsende wurden sie von den alliierten Besatzungsmächten „umerzogen”. Briten, Franzosen und Amerikaner wollten dabei demokratische Werte vermitteln, die Sowjets, die Niederösterreich, Burgenland, Teile Wiens und das nördliche Oberösterreich bis zum Staatsvertrag 1955 verwalteten, jene des Kommunismus. Und nun wurde Heinz abgeholt und in ein Kinderheim gebracht, „wo die nationalsozialistische gegen die sozialistische Gesinnung getauscht werden sollte“, erzählt mein Vater.
Die Frage, was aus dem kleinen Werner werden sollte, löste eine „angeblich immer schon Kommunistin gewesene“ Kulturreferentin – und solche gab es, wie mein Vater betont - der Lokalkommandantur mit der Empfehlung, auch den kleinen Buben den Russen zu übergeben, weil dies die Wandlung seines Bruders positiv beeinflussen könne. Anscheinend leuchtete das den Entscheidern ein.
Das Heim „wurde von österreichischen Kommunisten geleitet oder von solchen, die sich als solche ausgaben, weil sie sich im Krieg etwas zuschulden kommen hatten lassen“, berichtet mein Vater. „Wir empfanden es als Umerziehungsanstalt. Untergebracht waren wir in Holzbaracken in der Nähe der zerstörten Ostmark-Flugmotorenwerke in Guntramsdorf, überall hingen Parteiwimpel der KPÖ.“
In den Ostmark-Flugmotorenwerken hatten während des Naziregimes Insassen der Mauthausener KZ-Außenstelle Guntramsdorf Zwangsarbeit verrichten müssen (siehe Infos und Quellen). Heute vermutet mein Vater, dass sie damals als Kinder in den besseren Wohnbaracken des Aufsichtspersonals untergebracht waren. Von den Holzbaracken ist heute nichts übrig, da ihre Bestandteile in Nachkriegswintern zum Heizen verwendet wurden. „Und da war ich nun“, blickt er zurück, „ein nicht einmal noch Fünfjähriger unter einer überzeugten Riege von Napola-Teenagern mit Werwolfs- Fantasien, deren Gehirne jetzt von der braunen Suppe reingewaschen werden sollten."
Erster Waschgang des Tages war jeweils ein lautstark nachzusprechender Gruß an den „Über-alles-geliebten-Genossen-Stalin“. Danach ging es nicht zum Frühstück, sondern zum Entlausen.“ Am deutlichsten erinnert er sich wie er sagt an die unzähligen Gesundheitsappelle. Aus allen Richtungen wurde das Desinfektionsmittel DDT über die Kinder versprüht. „Als Befreiung empfand ich das wirklich nicht. Sich zu fügen und anzupassen, war überlebensnotwendig, das begriff ich auch als Vierjähriger.“
Doch anpassen an wen? ,,An die Kummerer (umgangssprachlich für Kommunisten, Anm.) oder an die aggressive Riege der Werwolfs-Napolitaner? Für einen Buben wie mich waren das Erwachsene. Fügte ich mich den Kummerers zu sehr oder zu oft, musste ich mich vor ihnen in Acht nehmen. Mit ihren 12 bis 14 Lebensjahren unterschieden sie sich sehr von den 15- und 16-jährigen Jungs dieser Zeit", sagt er. Hitler hatte alles, was groß genug war, um eine Panzerfaust zu schwingen, als letztes Aufgebot gegen die Walze der Roten Armee antreten lassen. ,,Sie wurden zerfetzt oder überlebten, heulend aber geläutert. Meine Napolitaner aber waren ja selbst für die Nazi noch zu sehr Kind, um auf einen sowjetischen T34-Panzer gehetzt zu werden. So blieben sie vom Live-Erlebnis des Infernos einer zusammenbrechenden Front verschont, was wiederum dazu führte, dass sie, immer noch Kind, überzeugt geblieben waren, sie hätten den Unterschied gemacht.“
Vom ersten Tag an ,,war das Klima im Heim vergiftet“, blickt mein Vater zurück. „Wir wurden durch die Schlafbaracken der Zwangsarbeiter geführt, die hier unter dem Nationalsozialismus zu Tode geschunden worden waren. Dabei wurden ihre Herkunftsländer aufgezählt - Russland, Polen, Jugoslawien. Aber dass sie jüdischer Religion waren, vielleicht sogar mehrheitlich, wurde von den österreichischen Wendehälsen nicht einmal erwähnt. Bleibt für mich die Frage offen, warum sie jene unerwähnt ließen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben riskiert hatten.“ (Viele Widerständler:innen waren überzeugte Kommunist:innen.)
Die Napolitaner zeigten sich von den Führungen wenig beeindruckt. „Und so lebte ich in zwei Welten: Einmal in einem Kokon aus Napolitanern mit geballten Fäusten des Nazi-Trotzes in ihren Hosentaschen, die alle Vorgänge um sie herum als Verrat an Führer und Reich ausgaben und auch so empfanden, und andererseits als Teil der Völker, die die Signale hörten.“ („Völker, hört die Signale“ ist der Refrain der „Internationalen“, dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung.) Auf Fragen nach dem Verbleib von Vater und Mutter gab es prinzipiell keine Antwort. Zu essen bekamen die Kinder im Lager Brot mit Magermilch und Wassersuppe mit wurmigen Erbsen. Wenn mein Vater aus Sehnsucht nach seiner Mama zu weinen begann, riskierte er dafür Prügel von den Napolitanern. „Mein Heulen werteten sie als Schwäche im Widerstand gegen die Verräter in Rot-Weiß-Rot.“
Als Spielplatz wurde ihm ein Sandhaufen zugewiesen. Der war vor dem Barackenfenster des Lagerleiters Jiricek aus irgendeinem Grund aus Schubkarren gekippt worden. „Mein einziges Spielzeug war ein angerosteter Stahlhelm. Den hatte ich vom Kreuz eines Soldatengrabes genommen. Ich hatte erwartet, dass mir Herr Jiricek den Stahlhelm wegnehmen würde, aber dem war nicht so. Er hat sich bloß vergewissert, dass es ein Wehrmachtshelm war, und gemeint: ,Den braucht er nicht mehr.‘ Dann hat er seinen Zeigefinger durch das ausgefranste Loch im Helm gebohrt und gesagt: ‚Da hat es das Schwein erwischt. Merk‘ es dir, Kleiner: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.‘ Das war ein Satz, den wir fast täglich hersagen mussten.“
Den Napolitanern war der Lagerleiter Jiricek ein rotes Tuch. Insgeheim teilte mein Vater dieses Urteil nicht, denn er wusste es besser: Eines Tages, „ich war gerade dabei, den Stahlhelm mit Wasser aus der Regentonne zu füllen“, hörte er Jiricek ins Telefon brüllen: „Das geht nicht! Ich brauch‘ für die Kinder was zu fressen. Das ist jetzt schon der dritte Tag ohne Ausspeisung.“ Und nach einer Pause: „Wir haben absolut keine Vorräte mehr, auch die Trockenmilch ist aufgebraucht.“ Danach stürmte Jiricek aus der Baracke, schwang sich auf sein Fahrrad und mein Vater sah, dass er weinte. „Nicht so wie Kinder mit Schluchzen und Rotzen, sondern mit vibrierenden Schläfen........
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