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Drang zur Tiefe

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thursday

Es ging alles ganz schnell. Hannah Arendt erlitt am Abend des 4. Dezember 1975 im Beisein ihrer Freunde Jeanette und Salo Baron in ihrer Wohnung in der 12. Etage am Riverside Drive 370 in Manhattan einen Herzinfarkt. Sie habe, so wird überliefert, mitten im Gespräch – ihrer Hand entglitt dabei die Zigarette – plötzlich heftig gehustet, sei ohnmächtig geworden und sofort gestorben. Schon im Jahr zuvor hatte Arendt einen Herzinfarkt erlitten. Gebrochen aber wurde ihr Herz bereits fünf Jahre zuvor, als ihr Mann Heinrich Blücher starb, ebenfalls infolge eines Herzinfarktes. Sie ist neben ihm auf dem Friedhof des Bard College bestattet.

Hannah Arendt hat sich vielfach mit dem Grauen in den nationalsozialistischen Todesfabriken beschäftigt. In einem legendären Fernsehinterview mit Günter Gaus sagte sie: »Dies hätte nie geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.« Dennoch war sie fähig, eine Liebe zur Welt zu bewahren.

Eines ihrer Gedichte, das posthum in dem Bändchen Ich selbst, auch ich tanze – Die Gedichte veröffentlicht wurde, ist Zeugnis dieser Liebe:

»Ich lieb die Erde
so wie auf der Reise
den fremden Ort,
und anders nicht.
So spinnt das Leben mich
an seinem Faden leise
ins nie gekannte Muster fort.
Bis plötzlich,
wie der Abschied auf der Reise,
die große Stille in den Rahmen bricht.«

Ein Rückblick auf Arendts Denken zeigt, dass ihr Drang zu verstehen an die Fähigkeit geknüpft ist, sich der Welt zu öffnen, um sie erfahren zu können. Arendt sah in der Geburt jedes Menschen die Kraft eines neuen Anfangs. Dieses Prinzip der Natalität erklärte sie zu einer zentralen Bedingung menschlicher Existenz. Mit der Pointierung der Gebürtigkeit grenzte sich Arendt nicht nur von Martin Heideggers Konzept vom »Sein zum Tode« ab, sondern........

© Juedische Allgemeine