Wege in vermeidbare (?) Katastrophen und das Versagen der Eliten: Russland und Deutschland im Vergleich
Die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingeleitete „Zeitenwende“ erinnert fatal an manche Kapitel des katastrophalen 20. Jahrhunderts, die im Allgemeinen als aufgearbeitet und überwunden galten. Nun müssen wir uns erneut fragen, warum es zum damaligen Zivilisationsbruch kam. Warum taten unsere Vorfahren zu wenig, um sich den selbstzerstörerischen Tendenzen in ihren jeweiligen Gesellschaften entgegenzustellen? War es Kurzsichtigkeit oder böser Wille?
Dabei darf man nicht vergessen, dass es zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nur wenige Anzeichen für die sich anbahnende Katstrophe gab. Ich möchte dazu einige Beispiele anführen.
In seinem Werk „Drei Gespräche“ aus dem Jahr 1900 legte der russische Philosoph Wladimir Solowjow einem seiner Protagonisten, dem „Politiker“, folgende Worte in den Mund.:
Ein Krieg in Europa ist unwahrscheinlich, weil es so viele Möglichkeiten gibt, Konflikte friedlich zu lösen….Die geschichtliche Periode der Kriege ist nun vorbei…Ich bin davon überzeugt, dass weder wir noch unsere Kinder große Kriege erleben werden. Und unsere Enkel werden sogar über die kleinen Kriege irgendwo in Asien oder Afrika nur aus den Geschichtsromanen erfahren.
Dass die Gedanken des „russischen Europäers“ im Werk Solowjows im damaligen Europa weit verbreitet waren, bestätigt auch Stefan Zweig in seinen Erinnerungen. Er schreibt:
An barbarische Rückfälle wie Kriege zwischen Völkern Europas, glaubte man so wenig wie an Hexen und Gespenster; beharrlich waren unsere Väter durchdrungen von dem Vertrauen auf die unfehlbar bindende Kraft von Toleranz und Konzilianz.
Wenn man bedenkt, dass all diese Visionen am Vorabend der wohl zerstörerischsten Kriege der Neueren Geschichte aufgestellt wurden, klingen sie besonders bizarr.
Dem Autor von „Drei Gesprächen“ selbst waren übrigens die Gedankengänge eines seiner Protagonisten bereits fremd. Nicht umsonst gehört das letzte Wort in seinem Buch dem geheimnisvollen Herrn „Z“, dem Solowjow seine apokalyptische Vision über das künftige Erscheinen des Antichristen in den Mund legt.
Der von Wladimir Solowjow und von Stefan Zweig geschilderte bedingungslose Fortschrittsglaube vieler Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert in gewisser Weise an den Triumphalismus von Francis Fukuyama, der etwa neun Jahrzehnte später vom „Ende der Geschichte“ sprechen sollte, also vom endgültigen und weltweiten Sieg der westlichen Wertvorstellungen. Auch diese Prognose wurde bekanntlich bald widerlegt.
Nun möchte ich mich aber erneut mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und ihrer Genese befassen, nicht zuletzt mit der Frage, ob es möglich gewesen wäre, sie zu verhindern.
Zunächst einige Worte zu ihrer Genese. Die größten Rückschläge erlitten die europäischen Vorstellungen vom Fortschritt und Zivilisation bei ihrer Auseinandersetzung mit zwei Denkschulen, die zwar Geschöpfe des ansonsten liberalen 19. Jahrhunderts waren, ihr zerstörerisches Potential aber erst im totalitären 20. Jahrhundert entfalten sollten: die Klassenkampftheorie und die Rassenlehre mit ihrem antisemitischen Kern. Warum konnten die radikalsten Verfechter dieser Lehren ausgerechnet in Russland und in Deutschland an die Macht kommen? Antisemitische Ressentiments, an welche die Nationalsozialisten appellierten, existierten bekanntlich in beinahe allen europäischen Ländern. Was die radikalen sozialistischen Erlösungserwartungen anbetrifft, die den Bolschewiki zur Macht verhalfen, stellten sie ebenfalls ein allgemein europäisches Phänomen dar. Trotz all dieser Sachverhalte erwiesen sich Deutschland und Russland als besonders anfällig für totalitäre Versuchungen, wenn auch mit einem jeweils anderen Kennzeichen. Dies hatte vielleicht mit der in den beiden Ländern tief verankerten Sehnsucht nach der Überwindung der inneren Spaltung zu tun – in Deutschland der nationalen, in Russland der sozialen.
Die Aufbruchsstimmung, die Deutschland zur Zeit der Einigungskriege von 1864-1871, vor allem während des deutsch-französischen Krieges erlebte, stellte eine Art Revolution dar – anstelle der „gescheiterten Revolution von 1848/49, die nicht im Stande gewesen war, die nationale Frage zu lösen. Die deutsche Einheit, die von Vielen als eine Art Vollendung der nationalen Geschichte empfunden wurde, war mit euphorischen Erwartungen verknüpft
Der Impetus von 1870/71 erlosch aber schnell. Die Nation blieb innerlich gespalten und durch konfessionelle, politische, territoriale und soziale Spannungen erschüttert, bis die „Ideen von 1914“ die Nation, die nun angeblich „keine Parteien mehr kannte“, ähnlich wie 1870/71 zu einem Monolith zusammenschweißte. Die Kriegsbegeisterung des Sommers 1914 stellte natürlich ein gesamteuropäisches Ereignis dar, wenn man von einigen Ländern absieht, aber im Grunde wurde sie nur in Deutschland zu einer neuen Etappe im „Nation-building“-Prozess. Für die Verfechter einer „organischen“ Einheit der Nation ging aber dieser Prozess nicht weit genug. Dass die angeblich „im Felde unbesiegte“ Armee diesen Krieg letztendlich verloren hatte, führten Viele bekanntlich auf das Zerbröckeln der Heimatfront zurück. Dies war die Stunde des Aufkommens der „Dolchstoßlegende“, die die politische Kultur der Weimarer Republik so stark vergiftete.
Nun verlor der Kampf um die organische Einheit der Nation jeden Bezug zur Realität. Nur in diesem geistigen Klima, das Hermann Rauschning als eine Art Delirium bezeichnete, konnte das alles vereinfachende „Erlösungskonzept“ Hitlers,........
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