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„Rückzugsgefechte“? Europäische Demokratien nach der Versailler Konferenz und nach der „Zeitenwende“ im Vergleich

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01.05.2024

Vieles deutet darauf hin, dass die USA demnächst auf ihre Rolle als globaler Ordnungsfaktor verzichten könnten. Wiederholt sich die Geschichte?

Vor rund 35 Jahren feierten die Europäer das Ende des 1914 bzw. 1917 begonnenen „kurzen“ 20. Jahrhunderts – des Jahrhunderts der „Extreme“ und der totalitären Versuchungen. Die Verfechter der Freiheit schienen die Feinde der „offenen Gesellschaften“ endgültig bezwungen zu haben. In der „Charta von Paris“ vom November 1990, die der neuen europäischen Ordnung zugrunde lag, konnte man folgende Sätze lesen:

Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen … Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken…Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht.

Dieser Traum vom Ende der bisherigen Geschichte, die auf Gewalt und Unterdrückung basierte, erinnert an vergleichbare Träume, die viele Europäer kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfasst hatten. Voller Hoffnung blickte man auf den damals entstandenen Völkerbund, dessen zentrale Aufgabe darin bestand, eine Wiederholung solcher Katastrophen wie der von 1914-18 zu verhindern. Der Eintritt in eine neue Ära der friedlichen Regelungen von internationalen Konflikten schien damals nicht zuletzt deshalb möglich zu sein, weil es sich bei den Gründern des Völkerbundes in ihrer Mehrheit um demokratische Staaten handelte. Man ging davon aus, dass die Demokratien friedliebender als autoritäre Regime seien, denn die letzteren neigten dazu, ihre unterdrückten Untertanen durch abenteuerliche Außenpolitik von den innenpolitischen Konflikten abzulenken. Die Tatsache, dass es sich bei den Verlierern des Ersten Weltkrieges um autoritär regierte Staaten und bei den Siegermächten in der Regel um parlamentarische Demokratien handelte, trug stark zu einem europaweiten Siegeszug des demokratischen Gedankens bei. Sowohl in den besiegten Staaten als auch in den Nachfolgestaaten der zusammengebrochenen multinationalen Imperien Mittel- und Osteuropas wurden in der Regel demokratische Systeme errichtet. Der demokratische Triumphalismus von 1918/1919 ähnelte, wie bereits gesagt, demjenigen von 1989/90, als Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ sprach. Dies war die Atmosphäre, in der der Völkerbund entstand.

Dennoch drohten der 1918–1920 entstandenen Nachkriegsordnung von Anfang an unabsehbare Gefahren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Russland und Deutschland – die potentiell stärksten Mächte des europäischen Kontinents – sich nicht an der Gestaltung dieser Ordnung beteiligen durften und deren unversöhnliche Gegner wurden. Sowjetrussland wurde nach Versailles nicht einmal eingeladen. Die deutsche Delegation luden die Siegermächte nach Versailles nur dazu ein, um ihr die bereits beschlossenen Friedenbedingungen mitzuteilen.

Einen zusätzlichen empfindlichen Schlag erhielt die Nachkriegsordnung dadurch, dass der amerikanische Präsident Woodrow Wilson – ihr eigentlicher Urheber – die politische Elite seines Landes nicht überzeugen konnte, diese Ordnung zu garantieren. Der amerikanische Senat weigerte sich, den Versailler Vertrag zu ratifizieren. Die Verfechter des amerikanischen Isolationismus setzten sich durch, die USA (damals bereits die mächtigste Demokratie der Welt) überließen Europa seinem Schicksal.

Die immer schärfer werdende europäische Nachkriegskrise, die 1923, während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung ihren Höhepunkt erreichte, war nicht zuletzt durch dieses Desinteresse der USA an den europäischen Angelegenheiten mitbedingt. Die „erste deutsche Demokratie“ (Weimar) stand damals, unter anderem wegen der beispiellosen Inflation, am Rande eines Zusammenbruchs. Der Chronist des Weimarer Staates Arthur Rosenberg sagt, dass Ende 1923 kein........

© Die Kolumnisten


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