Der Chef von Javier Mileis Denkfabrik: Deutschland kann so arm wie Argentinien werden
So ein Experiment hat es noch nicht gegeben. Zum ersten Mal in der Geschichte steht ein libertärer Politiker an der Spitze eines Staates und baut denselben ab. Er halbiert die Zahl der Ministerien, entlässt mehr als 50.000 Beamte, streicht Leistungen für Millionen Bürger. Javier Milei verändert den Charakter Argentiniens in Rekordzeit. Nach einem Jahr kann er enorme Erfolge vorweisen, die Inflation ist massiv gesunken, zum ersten Mal seit 123 Jahren verbuchte Argentinien 2024 kein Haushaltsdefizit. Doch die Bevölkerung zahlt einen hohen Preis. Die Mittelschicht, vielfach von staatlichen Zuwendungen abhängig, erodiert. 53 Prozent der Menschen leben mittlerweile unter der Armutsgrenze. Und trotzdem halten die Bürger dem Präsidenten die Treue.
Auf dieser Seite des Atlantiks waren viele vom radikalen Kurwechsel Argentiniens zuerst überrascht, mittlerweile stößt er auf breite Ablehnung. Immerhin war das Land schon neunmal zahlungsunfähig und konnte im Jahr 2020 Schulden von 65 Milliarden Dollar bei internationalen Kreditgebern nicht bedienen. Argentinien galt als notorisch defizitäres Land mit Klientelwirtschaft. Und doch kam Javier Milei mit seiner anarcho-kapitalistischen Agenda keineswegs aus dem Nichts. Seit mehr als 20 Jahren haben libertäre Denker und Wissenschaftler seiner Revolution den Boden bereitet. Ihr vielleicht prominentester Vertreter ist Agustín Etchebarne, Direktor des Thinktanks Libertad y Progreso (Freiheit und Fortschritt). Im Video-Interview aus seinem Büro in Buenos Aires erklärt er, warum er den Libertarismus für zutiefst menschlich hält, wie die Muster wirtschaftlichen Auf-und Abstiegs funktionieren und was er im Bundestagswahlkampf fordern würde.
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Professor Etchebarne, nachdem der Libertarismus jahrzehntelang ein randständiges Dasein gefristet hat, legte er jüngst ein beeindruckendes Comeback hin, insbesondere mit der Wahl von Javier Milei in Argentinien. Welche Art von Freiheit ist der Libertarismus für Sie?
Freiheit bedeutet für mich zu akzeptieren, dass jeder seinen Körper, seinen Geist und folglich die Früchte seiner Arbeit besitzt. Das ist Privateigentum. Und jedes Mal, wenn es in einer Gesellschaft Institutionen gibt, die diese Idee unterstützen – das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum –, sehen wir, wie der Mensch aufblüht. Wer das nicht akzeptiert, braucht den Staat, um eine Version sozialer Gerechtigkeit umzusetzen, oder wenn man Reichtum umverteilen will, damit einige Menschen andere subventionieren, die weniger talentiert sind. Dafür muss man Gewalt anwenden. Man benutzt also den Staat als Mittel, um von einigen zu nehmen und anderen zu geben. Aber das ist ein Zustand der Gewalt. Sobald wir den Rahmen einer freien Zusammenarbeit unter Menschen verlassen, finden wir eine weniger erfolgreiche Gesellschaft.
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Es wird viel diskutiert über militärische Kämpfe für die Freiheit, wie in der Ukraine, über Meinungsfreiheit in Zeiten von Fake News, über Bewegungsfreiheit, wenn es um Migration geht. Aber Debatten über die wirtschaftliche Freiheit sind selten. Warum?
Ich halte Freiheit für unteilbar. Zum Beispiel haben wir jetzt ein Problem mit dem Wechselkurs in Argentinien. Er ist besser als im vergangenen Jahr, aber wir haben immer noch ein Problem. Wer aber keinen Zugang zu Devisen hat, kann das Land nicht verlassen. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Freiheit und der Freiheit zu reisen. Und das gilt für alles. Wenn man hohe Zölle hat, dann hat man keinen Zugang zu vielen Gütern, oder die Armen haben keinen Zugang zu Telefonen, Computern und damit zu Verbindungen zu anderen. Wirtschaftliche Freiheit ist untrennbar mit anderen Freiheiten verbunden. Das Schlimmste ist, wenn der Staat viel Macht hat, in die Wirtschaft einzugreifen, dann hat man überhaupt keine Freiheit. Denn wenn der Staat die Macht hat, einen Geschäftsmann reich oder arm zu machen, dann ist die Macht, die er über seinen Geist hat, enorm.
War das bisher in Argentinien der Fall?
Das sieht man in Argentinien jeden Tag. Denn wir haben viel Klientelpolitik und Vetternwirtschaft. Zwar besitzen manche Unternehmer zehn Milliarden Dollar, aber ihre Meinung können sie nicht frei äußern, weil sie vom Staat abhängig sind. Hätten sie der ehemaligen Regierungspartei ihre Unterstützung entzogen, wären sie erledigt gewesen. Als Christina Kirchner Präsidentin war, hatte sie die meisten dieser Leute gegen sich, aber niemand konnte etwas sagen.
Setzen diese Leute sich jetzt für Präsident Milei ein?
Nun, nicht jeder ist für Präsident Milei, denn die Vetternwirtschaft ist jetzt in Gefahr. Wenn man Grenzen für den Handel öffnet und Zölle senkt, gibt es einige, die durch die neue Freiheit benachteiligt werden. Nach acht Jahrzehnten Protektionismus müssen sich die Unternehmen verändern. In einer geschlossenen Wirtschaft gibt es auch nach hundert Jahren dieselben Firmen in der Hand derselben Familien. Wenn man die Tore öffnet, werden einige von ihnen verschwinden, aber wir werden junge Menschen erleben, die Unternehmen gründen, deren Produkte wir uns nicht einmal vorstellen können. Deshalb glauben Libertäre wie Milei nicht daran, dass man auswählen kann, welcher Sektor der beste Sektor der Wirtschaft sein wird.
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Deutschland ist staatsorientierter, insbesondere in dem Bestreben, unsere Wirtschaft CO₂-neutral zu gestalten. Wie geht eine libertäre Regierung mit Fragen des Klimawandels um?
Während des Kalten Krieges war die wirtschaftliche und politische Überlegenheit liberaler Demokratien gegenüber kommunistischen Regimen offensichtlich, wie die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland oder zwischen Süd- und Nordkorea zeigten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die westliche Linke einen bedeutenden Wandel. Sie gab den traditionellen Wirtschaftsdiskurs weitgehend auf und konzentrierte sich auf kulturelle und soziale Fragen, ein Phänomen, das manche als „Kulturmarxismus“ bezeichnen. Dieser Ansatz umfasste Themen wie Ökologie, Klimawandel und die Verteidigung von Minderheitenrechten einschließlich der LGBTQ -Gemeinschaft und der Rechte der Frauen. Anstatt diese Themen jedoch aus einer klassisch liberalen Perspektive zu fördern, nahm diese Bewegung eine von der marxistischen Dialektik beeinflusste Sichtweise an, die den Konflikt und den Klassen- oder Geschlechterkampf in den Vordergrund stellte. Mit dieser neuen Ausrichtung gelang es der Linken, in Europa wieder an Einfluss zu gewinnen, indem sie sich an den Kontext nach dem Kalten Krieg anpasste und sich auf die aufkommenden sozialen und kulturellen Dynamiken konzentrierte.
Es scheint ironisch, dass die Lehren der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, für die Präsident Milei und Sie eintreten und die auch in Elon Musks Vision für Amerika eine zentrale Rolle spielen, im politischen Diskurs im deutschsprachigen........© Berliner Zeitung
